Gott ist menschlicher als man selbst

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Wer die Erwartungen Allahs erfüllen will, wird hilfsbereiter, selbst gegenüber Feinden.

Stiften Religionen Frieden, oder tun sie das nur innerhalb der Gläubigen und führen gegenüber anderen zu geringer Kooperation bis höchster Aggression, so wie es Christen in Kreuzzügen hielten und Muslime es heute unter der schwarzen Fahne tun? Der Streit darüber ist lang, Psychologen versuchen, ihn in Labors zu klären: Jesse Lee Preston und Ryan Ritter (University of Illinois) kamen zu dem Befund, dass man beim Glauben differenzieren muss, nicht zwischen Religionen, sondern in ihnen, zwischen Gott und Organisation bzw. religiösen Führern. Hat man gerade Gott im Kopf, wird man hilfsbereiter gegenüber Andersgläubigen. Denkt man an die Zwischeninstanzen, wendet man das Wohlwollen bevorzugt den Glaubensbrüdern zu (Pers. Soc. Psych. Bull. 39, S. 1471).

Preston/Ritter interpretieren das so, dass eine Glaubensgemeinschaft für ihre Gläubigen zuständig ist, Gott hingegen für alle Menschen. Nun ja, das war ein Laborexperiment, an US-Studenten, meist Christen. Hat das irgendetwas mit der Realität zu tun, mit Situationen, in denen verbissen gekämpft wird, über Generationen, ohne Aussicht auf ein Ende? Hammad Sheik (New York) hat es getestet, an palästinensischen Kindern und Jugendlichen, meist gläubigen Muslimen, im Gaza-Streifen und Westjordanland.

Ihnen hat er eines der klassischen moralischen Dilemmata vorgelegt, jenes von der Fußgängerbrücke, auf ihr steht ein dicker Mann. Die Brücke geht über eine Eisenbahnschiene, von der einen Seite kommt eine Lokomotive, auf der anderen sind fünf nichtsahnende Menschen, in diesem Fall spielende Kinder. Der Lokführer sieht sie nicht, vielleicht ist er auch eingeschlafen. Aber ein Beobachter, der nicht weit weg steht von dem Mann auf der Brücke, überblickt alles. Was soll er tun? Den dicken Mann hinunterwerfen, auf dass die Lokomotive von ihm gebremst werde? Das wäre sein Tod, aber fünf Kinder wären vor dem ihren gerettet.

Die palästinensischen Kinder verstanden zunächst nicht, es gibt bei ihnen keine Eisenbahn. Also ließ Sheik einen Truck auf einer Straße fahren. Dann teilte er die Testpersonen in zwei Gruppen und erzählte der einen, bei den spielenden Kindern handele es sich um palästinensische, die andere Gruppe informierte er dahin, es seien israelische Kinder (der dicke Mann wurde nicht zugeordnet, außer durch den Namen: Hadid). Die Testpersonen entschieden sich mehrheitlich dazu, die Kinder zu retten und den Mann zu opfern, allerdings entschieden sich noch mehr dafür, statt des Mannes sich selbst zu opfern, zu springen statt zu schubsen.

Palästinenser: Israeli retten?

Dann brachte Sheik noch eine Variable ins Spiel: Die Testpersonen sollten zwei mal entscheiden, das eine Mal nach ihrem eigenen Interesse, das andere Mal so, wie Allah es von ihnen erwarten würde. Natürlich waren sie eher zum Opfer des Mannes bereit, wenn es um palästinensische Kinder ging: 77 Prozent würden den Hadid in diesem Fall hinabwerfen, 41 Prozent würden ihn für israelische Kinder opfern. Das war die Antwort auf die Frage nach der persönlichen Entscheidung.

Dann kam die nach dem designierten Willen Allahs: Nun würden nicht 41 Prozent der 14- bis 16-jährigen Palästinenser israelische Kinder retten, sondern 45 (selbst springen würden statt 53 Prozent 67). Palästinensische Kinder würden durch das Opfern des Mannes weniger retten, 72 Prozent statt 77, durch Selbstopfer mehr, 89 statt 86.

Die Zahlen rechnen sich insgesamt so um, dass die handlungsleitende Differenz zwischen Glaubensbrüdern (und Schicksalsgenossen) und Andersgläubigen (und Feinden) merklich geringer wird, wenn das Handeln sich von dem leiten lässt, was Gott vermutlich erwartet (Pnas 28. 12.). Potenzielle Erwartungen religiöser Führer wurden nicht mit getestet, möglicherweise deshalb formuliert Sheikh vorsichtig: „Der Befund lässt es möglich erscheinen, dass der Glaube an Gott Vorurteile gegenüber anderen Gruppen mildern und Barrieren gegenüber dem Frieden abbauen kann.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2015)

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