Holocaustforschung: Die NS-Täter rücken ins Rampenlicht

Die Forschung über den Massenmord der Nationalsozialisten 1933 bis 1945 erfolgt aus ständig neuen Perspektiven. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin.
Die Forschung über den Massenmord der Nationalsozialisten 1933 bis 1945 erfolgt aus ständig neuen Perspektiven. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin.(c) APA
  • Drucken

Das Bild des millionenfachen Mordes der Nazis wandelt sich. Drei neue Tendenzen.

Am kommenden Mittwoch, den 27. Jänner, wird wieder weltweit an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933 bis 1945 erinnert: Nicht nur Juden, auch Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, politisch Andersdenkende, Männer und Frauen des Widerstands, Zwangsarbeiter, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Kriegsgefangene und Deserteure gerieten in die Todesmühlen des NS-Vernichtungsapparats. Anlass für den Holocaustgedenktag ist die Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau durch Soldaten der Roten Armee am 27. Jänner 1945.

Unbearbeitete Aspekte

Wissenschaftliche Publikationen über die NS-Zeit füllen inzwischen ganze Bibliotheken und Gewaltherrschaft, Krieg und Massenmord kommen dabei in der Forschung nicht zu kurz. Gibt es aber überhaupt noch Aspekte, die unbearbeitet sind? In welche Richtung geht die Holocaustforschung derzeit? Im Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien gab zuletzt Frank Bajohr Antworten auf diese Fragen. Der Historiker ist Leiter des 2013 gegründeten Zentrums für Holocaust-Studien am renommierten Münchner Institut für Zeitgeschichte. Er hob in seinem Vortrag drei Tendenzen hervor:

Die Täter rücken in der Forschung immer mehr in den Vordergrund: Während früher Hitler, Himmler, Heydrich und Göring als Auftraggeber des Massenmords im Rampenlicht standen und alle anderen nur als deren Gehilfen galten, wird jetzt verstärkt über die Mörder geforscht. 200.000 bis 250.000 deutsche und österreichische Täter gab es. Dazu kamen viele weiterer Akteure – „Bystanders“, wie sie der aus Wien stammende Pionier der Holocaustforschung, Raul Hilberg, nannte – also die Helfer, die Nutznießer und Profiteure des Massenmordes.

Die Übergänge zwischen Tätern und Bystanders (das Wort ist mit „Zuschauern“ unzureichend übersetzt) sind dabei laut Bajohr fließend. Und sie alle kamen nicht aus einer bestimmten Bevölkerungsschicht, sondern entstammten der sozialen Mitte, sodass mittlerweile von der Tätergesellschaft gesprochen wird. Täterforschung müsse deshalb auch in eine breit angelegte Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit eingebettet werden.

Dass es dabei in den von den Nazis überfallenen und unterjochten Ländern nicht nur Opfer, sondern ebenfalls Täter gab, hat in Polen, den Niederlanden und in Ungarn in den letzten Jahren zu heftigen Kontroversen geführt. So sollen allein der Blauen Polizei, einer von den Nazis im besetzten Polen aufgestellten Hilfspolizei, 140.000 Juden zum Opfer gefallen sein.

Bajohr erwartet, dass auch in anderen europäischen Ländern das Verhalten der Bevölkerung während des Holocaust noch heftige Auseinandersetzungen auslösen wird. Er stellt aber auch klar: „Es ist wichtig zu wissen, dass sich polnische oder ukrainische Polizisten am Holocaust beteiligten – nur wären sie ohne die deutsche Besetzung ihrer Länder niemals in diese Situation gekommen.“

Der Fokus der Forschung verlagert sich immer mehr nach Osteuropa. Hier befanden sich die Todesfabriken der Nazis, hier wüteten die Einsatzgruppen und verübten an vielen Schauplätzen Massenmorde, hier ließ die Wehrmacht über zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene verhungern. Der sogenannte Generalplan Ost sah das „Absterben“ von 30 Millionen Slawen vor. Vor diesem Hintergrund, meint Bajohr, „war die Entscheidung zum systematischen Massenmord an allen europäischen Juden aus der zeitgenössischen Sicht der Täter womöglich gar kein besonders radikaler Quantensprung“. Der Holocaust gehöre also auch in die Geschichte der deutschen Besatzung eingebettet.

Das Bild des Holocaust in der Geschichtsschreibung wandelt sich von einem vom Dritten Reich ausgehenden Völkermord zu einem europäischen Genozid. Die zentrale Verantwortung Nazi-Deutschlands für den Holocaust steht dabei außer Frage. Die neuere Forschung zeigt Bajohr zufolge auch, dass es keinen einzigen, das ganze Mordgeschehen zentral in Gang setzenden Führerbefehl gegeben habe, „sondern sich in einem Wechselspiel zwischen Zentrale und Peripherie radikalisierte“.

„Insularisierung“ vermeiden

Für die weitere Forschung hält es Bajohr für wichtig, dass eine „Insularisierung“ der Holocaustforschung durch fehlende internationale Ansätze und zu national ausgerichtete Perspektiven vermieden wird. Noch nicht ausgewertet seien sowjetische Quelleneditionen, etwa die Akten von Sonderkommissionen und Gerichten, die der Roten Armee gefolgt seien und gegen Kollaborateure und Beteiligte am Holocaust vorgingen.

Von griffigen Thesen über „Gewalträume“ (Jörg Baberowski) oder angebliche Zusammenhänge zwischen nationalsozialistischem und stalinistischem Terror (Timothy Snyder) hält Bajohr weniger: „Woran es aber mangelt sind empirische Studien, die den Holocaust jenseits luftiger Thesen in die sozialen Prozesse unter deutscher Besatzungsherrschaft einordnen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.