Stein, Schere, Krawatte: Regeln des Exzesses

„Wo bin ich? Unter Irrsinnigen? Unter Verschwörern? Bin ich in die Versammlung irgendeiner religiösen Sekte geraten?“ Das fragt sich Fridolin in Schnitzlers „Traumnovelle“ – nach der Stanley Kubrick den Film „Eyes Wide Shut“ drehte, mit Tom Cruise (Bildmitte) in der Hauptrolle.
„Wo bin ich? Unter Irrsinnigen? Unter Verschwörern? Bin ich in die Versammlung irgendeiner religiösen Sekte geraten?“ Das fragt sich Fridolin in Schnitzlers „Traumnovelle“ – nach der Stanley Kubrick den Film „Eyes Wide Shut“ drehte, mit Tom Cruise (Bildmitte) in der Hauptrolle.(c) Warner
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Ob Silvester oder Karneval, das Fest ist ein Ausnahmezustand, in dem die Kultur ihre Zügel schleifen lässt. Doch so exzessiv es sein mag, es braucht Regeln. Denn eine Gesellschaft ist in ihren Festen am verletzlichsten.

Als „wüste Offenbarung und mysteriösen Skandal“, als „bewusstlose Wut und Lustbarkeit“ schildert Thomas Mann im „Zauberberg“ den epileptischen Anfall, die „Krampfverzückung“ des Lehrers Popów. Es ist nur ein kleines Ereignis im Kapitel „Totentanz“, aber diesem folgt die „Walpurgisnacht“: Der Fasching im Sanatorium, in dem Hans Castorp nicht nur mit seiner Clawdia Französisch spricht, sondern auch dem Humanisten Settembrini das Duwort aufdrängen will. Eine „widerwärtige Wildheit“ nennt dieser die fastnächtliche Freizügigkeit, „ein Spiel mit dem Urstande, ein liederliches Spiel, das ich verabscheue, weil es sich im Grunde gegen Zivilisation und entwickelte Menschlichkeit richtet, – sich frech und schamlos dagegen richtet.“

Dieses Spiel mit dem „Urstande“, gegen die Zivilisation, ist es vergleichbar mit dem Kontrollverlust des Epileptikers? Popów habe „im Stillsten wohl dennoch ein wenig achtgegeben“, um bei seinem Anfall nicht zu ersticken, schreibt Thomas Mann.
Die Kultur als Herrschaft des Bewusstseins, als Kontrolle über das Unbewusste: Diese Sichtweise, die Sigmund Freud so eindrucksvoll formuliert hat, entspricht unserem Sprachgebrauch. Freud verglich das Es mit einem wilden Pferd, das Ich mit einem „Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll“. So nennen wir ein wildes Fest zügellos, ungezügelt oder enthemmt. Die Feiernden lassen die Zügel los oder wenigstens schleifen, die Hemmungen fallen. Dabei helfen ihnen die Masken, die verantwortliche Individuen in Typen verwandeln.

„Feierlicher Durchbruch eines Verbots“

„Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzess, ein feierlicher Durchbruch eines Verbotes“, erklärte Freud in „Totem und Tabu“: „Nicht weil die Menschen infolge irgendeiner Vorschrift froh gestimmt sind, begehen sie die Ausschreitungen, sondern der Exzess liegt im Wesen des Festes; die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt.“

Freilich ist dieser Exzess auch bei Freud nicht uferlos, nicht unbeschränkt. Erstens hat die Überschreitung der Verbote rituellen Charakter: Bei der Totemmahlzeit töten die Söhne nicht den Vater, sondern ein Tier, das an dessen Stelle geschlachtet wird. Auch das festtypische Brechen von Tabus – das Freud, der als Tabu nur das Inzestverbot sah, auffällig wenig behandelt – läuft nach Regeln ab. Zuvorderst der, dass das exzessive Handeln am nächsten Tag nicht mehr gültig ist: Das gewährte Duwort muss neu bestätigt werden, wenn es nicht überhaupt vergessen wird – wie alles, was nach zwei Uhr früh passiert ist.

Zweitens war Freud bewusst, dass nicht alles sonst Verbotene beim Fest plötzlich erlaubt ist. Das könnte sonst in Raub und Mord münden, wie im erschreckenden US-Thriller „The Purge“: In einem zukünftigen Amerika sind alljährlich in einer Nacht alle Verbrechen erlaubt, ja staatlich erwünscht. Das diene erstens dem Aggressionsabbau, zweitens der „Säuberung“ der Gesellschaft von Kriminellen und Arbeitslosen.

Nein, auch im wildesten Fasching gelten die bürgerlichen Gesetze. Was zu seltsamen Konflikten führen kann. So ist es in der rheinischen Weiberfastnacht üblich, dass Frauen den Männern, einer simplen Freud'schen Metaphorik gehorchend, die Krawatten abschneiden. Da werden die Männer nicht gefragt. Als allerdings ein Kunde eines Reisebüros in Essen klagte, weil ihm dort die Krawatte gestutzt wurde, entschied das Amtsgericht, dass eine Eigentumsverletzung vorliege, weil er nicht zugestimmt habe. Ein Einverständnis könne allerdings unterstellt werden, wenn er sich im Karnevalstreiben befände und offensichtlich mitfeiere. Ähnliche Rechtsauslegung wird wohl zu erwarten sein, wenn ein Mann im Rheinland sich bei Gericht darüber beklagen sollte, dass ihm bei der Weiberfastnacht, wie dort üblich, von fremden Frauen Bützchen (Bussis) verabreicht wurden.

Schlemmermessen in England

Ein Fest, so exzessiv es scheinen mag, setzt Wissen über seine Regeln voraus; man muss eingeweiht sein, um es mit einem Wort aus der verwandten religiösen Sphäre zu sagen. Wobei religiöse Feste durchaus den Charakter des Exzesses annehmen können, man denke nur an die Dionysien. Auch das christliche Abendmahl – das Freud von der Totemmahlzeit ableitete – stand immer wieder in der Gefahr, in Exzesse zu münden. Bei den „glutton masses“ zu Ehren der Jungfrau Maria im England der frühen Neuzeit etwa ging die Messe direkt in ein Fest über, das, so der deutsche Soziologe Aldo Legnaro, „offensichtlich in der völligen Betrunkenheit aller Beteiligten (auch der Priester) endete“.

„Wo bin ich?“, fragt sich der in eine vorstädtische Orgie geratene Fridolin in Schnitzlers „Traumnovelle“: „Unter Irrsinnigen? Unter Verschwörern? Bin ich in die Versammlung irgendeiner religiösen Sekte geraten?“ Als Fridolin dann als Eindringling entlarvt wird – weil er die Parole des Hauses nicht kennt –, ruft man ihm zu: „Die Maske herunter!“ Er weigert sich und wird aus dem Haus gejagt: Die als Nonne verkleidete Frau, die ihn auslösen wollte, verliert „wie durch einen Zauber“ ihre Tracht, doch Fridolin kann das Bild ihres Antlitzes nicht mehr erhaschen . . .

Die Demaskierung ist – vor dem Hinauswurf – die logische Sanktion für einen Festgast, der die Regeln im Exzess, die Ordnung im Chaos nicht kennt – oder nicht kennen will. Diese Unkenntnis – oder diese Verweigerung der Kenntnisnahme – ist bedrohlich, denn eine Gesellschaft ist am verletzlichsten in ihren Festen, in ihren Exzessen, in denen sie ihre Schranken ausweitet, die Zügel lockert. Das kommt zum Entsetzen über die Angreifer der Kölner Silvesternacht dazu: Die Empörung darüber, dass sie diesen freiwilligen Ausnahmezustand für ihre frauenfeindlichen Zwecke ausnutzten. Das war, hier passen die Worte Settembrinis ganz ohne Ironie, ein liederliches Spiel, das sich gegen Zivilisation und entwickelte Menschheit richtete.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2016)

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