Sozialgeschichte: Bäuerliches Erben im Böhmerwald

Der Bauer als Alleinerbe, zumindest in Mitteleuropa. Kupferstich um 1700.
Der Bauer als Alleinerbe, zumindest in Mitteleuropa. Kupferstich um 1700.(c) Gemeinfrei
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Ob Haus und Hof von einem oder allen Kindern übernommen wird, wirkt sich auf Familie und Gesellschaft unterschiedlich aus – aber nicht so stark wie bisher angenommen.

In der Neuzeitforschung wird angenommen, dass eine unsichtbare Linie in etwa von Triest nach St. Petersburg durch Europa verläuft, die zwei große Heirats- und Familienmuster trennt. Sie wird nach ihrem Entdecker, dem englischen Statistiker und Mathematiker John Hajnal, benannt. Ihm fiel auf, dass östlich dieser Übergangszone ein niedriges durchschnittliches Heiratsalter vorherrschte und – im Gegensatz zum Westen – praktisch alle Menschen einmal im Verlauf ihres Lebens heirateten. Seither teilt die Hajnal-Linie Europa sozialgeschichtlich in Ost und West.

Östlich dominierte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein das gleichberechtigte Männererbe: Entweder bewirtschafteten die Brüder mit ihren Familien gemeinsam den ererbten Landbesitz, oder sie teilten das Land untereinander in kleinere Einheiten auf. Für die Gebiete Mitteleuropas, die westlich dieser Linie liegen, gilt das nicht. Hier erbte zumeist ein Nachfolger Haus und Hof. „Welche Rolle das Alleinerbe, das sogenannte Anerbenrecht, oder die Erbteilung auf die gesellschaftliche Entwicklung von Regionen haben, wird in der Fachwelt seit Langem diskutiert“, sagt Hermann Zeitlhofer, Bibliothekar und Historiker der Uni Wien.

Theorien rund um das Erbe

Zeitlhofer ging erstmals empirisch dem tatsächlichen Einfluss des Besitztransfers nach. Er konzentrierte sich dabei auf eine kleine ländliche Region im südlichen Böhmerwald (heute Tschechien), also ein Gebiet, wo Haus und Hof ungeteilt vererbt wurden. Die Ergebnisse liegen nun in Buchform unter dem Titel „Besitzwechsel und sozialer Wandel“ vor.

Diese brechen mit gängigen Theorien: Bisher ging die Forschung davon aus, dass im Bereich des Anerbenrechts die Zahl und Größe der Höfe gleich blieben und damit der Anteil der besitzlosen Schicht ebenfalls größer gewesen sein musste. Das wiederum beschleunigte eine Landflucht und ermöglichte eine breitere Industrialisierung. Gleichzeitig sei der Landbesitz nicht so stark zerstückelt worden wie in Regionen der Realteilung. Das habe sich nicht nur auf die Landschaft ausgewirkt, denn diese wäre nicht in Kleinstflächen aufgegangen, sondern auch auf Familienstrukturen, da die jüngeren Geschwister den Hof verlassen mussten.

Soziologen am Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich bereits mit den Auswirkungen unterschiedlicher Erbsysteme. Sie zeigten, dass die Nationalsozialisten etwa die Unteilbarkeit der Scholle – also von Grund und Boden – mit dem Anerbenrecht verknüpften. „Den Wert des Hofes zu erhalten und nicht aufzuteilen war für sie typisch deutsch und wurde positiv bewertet“, sagt Zeitlhofer.

Mikrostudie bricht mit Theorie

Die Mikrostudie des Sozialhistorikers liefert nun ein komplexeres Bild, das ein Schwarz-Weiß-Denken und eine strikte Einteilung in Unteilbarkeit und Realteilung nicht erlaubt. Zeitlhofer konnte im Zeitraum von 1640 bis 1848 sämtliche Grundbucheintragungen und Verwandtschaftsverhältnisse auf der Einheit einer Pfarrgemeinde rekonstruieren. Das Ergebnis ist, dass auch auf dem Boden des Anerbenrechtes neue Häuser mit kleinem Grundbesitz errichtet wurden, da die Pfarre und die Dorfgemeinde immer wieder Land verkauften. Dieses wurde dann von den Geschwistern der ältesten Söhne oder sogar von Knechten gekauft.

Zudem blieben Haus und Hof nicht immer bei einer Familie. Zum einen war die Sterblichkeit bei Kindern und Erwachsenen hoch, und daher war ein Erbe nicht garantiert, und zum anderen mussten die ökonomischen Rahmenbedingungen günstig sein. Höfe verschuldeten sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts regelmäßig. Der Besitz musste verkauft werden, bevor es zu einem Erbe kam.

Das Anerben wurde auch lange nicht als Rechtsbegriff verstanden. „Die Unteilbarkeit des Hofes war ein Gewohnheitsrecht, ein Brauch, eine Sitte“, sagt Zeitlhofer.

Im südlichen Böhmerwald wurde das Erbe zudem immer als Kauf abgehandelt, auch zwischen dem Vater und dem nachfolgenden Kind. Die anderen Geschwister bekamen eine finanzielle Abfindung: Gerade das wurde von der bisherigen Fachliteratur nicht immer berücksichtigt. Freilich war das finanzielle Erbe oft klein. Die jüngeren Geschwister mussten ein anderes Auskommen, etwa in der Flachsverarbeitung, der Holzdrechslerei oder der Forstwirtschaft, finden. Gänzlich vom Erbe ausgeschlossen waren sie aber nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2016)

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