Menschenopfer demonstrieren und zementieren Macht

(c) Jacques Arago / University of Auckland
  • Drucken

Ist das rituelle Töten von Mitgliedern der eigenen Gesellschaft ein Mittel der sozialen Kontrolle, mit der Eliten sich an der Spitze halten? Diese Hypothese wurde nun an frühen Kulturen Austronesiens erstmals getestet.

Auch die Wilden waren nicht edel, und auch die Südsee war kein Paradies: „Es beginnt beim Aufgang der Sonne und dauert bis zu ihrem Untergang. Alle Teilnehmer tanzen um den Sklaven herum und stechen mit heiligen Speeren auf ihn ein. Bei Sonnenuntergang erhält er den Gnadenstoß und bricht in seinem Blut zusammen.“ So wurden bei den Ngaju auf Borneo Menschen geopfert, anderswo in den Weiten des Pazifik ging es noch fürchterlicher zu, es wurde gesteinigt und lebend begraben, meist waren es Underdogs, an Gelegenheiten war kein Mangel, ein Tabubruch rief ebenso nach Menschenblut wie der Tod eines Clanchefs oder der Bau eines Kriegskanus, unter dem die Opfer zu Tode gedrückt wurden.

Andernorts auf der Erde war es nicht anders, keine Region war gefeit, selbst Abraham ließ das Messer über Isaak erst auf göttliches Geheiß wieder sinken (Genesis 22, 1ff.). Wie geht das zu, dass Menschen Mitglieder ihrer eigenen Gruppen opfern, seien sie Söhne oder auch nur Sklaven, und das immer im Namen einer außerirdischen Autorität?

Die Evolutionsbiologie sah die Funktion der Religionen lang im genauen Gegenteil: Sie dienten dazu, den Zusammenhalt von Gruppen zu fördern und soziale Normen zu befestigen, Gehorsam natürlich auch. Nach außen schlossen sie die Reihen, andere durften getötet werden, eigene nicht, sie waren tabu, gegen die ganz normale Gewalt. Aber nicht gegen die im Opfer: „Wie konnte etwas so Kostenaufwendiges und Verheerendes in frühen menschlichen Gesellschaften so verbreitet sein?“ Das fragt Joseph Watts, Psychologe an den University of Auckland. Eine Antwort bietet die Hypothese der sozialen Kontrolle, sie sieht im Menschenopfer ein Mittel der Macht bzw. der Mächtigen, die damit jede Abweichung unterdrücken, bevor sie in Aufruhr münden kann: Deshalb werden die Opfer oft so aufwendig vor aller Augen zelebriert.

Egalitäre opfern auch, aber weniger

Watts hat die Hypothese erstmals breit getestet, an 93 austronesischen Kulturen vor der Begegnung mit Europäern: Ihre Entwicklungsgeschichte hat Watts anhand der Dialekte rekonstruiert, zugleich hat er die Gesellschaften darauf hin analysiert, ob sie egalitär organisiert waren oder streng hierarchisch: Menschenopfer gab es in 40 dieser Gesellschaften, aber in egalitären floss nur in fünf von 20 rituell Menschenblut (25 Prozent), in rigide geschichteten Gesellschaften in 18 von 27 (67 Prozent).

Wie herum läuft es? Erst muss sich Macht herauskristallisiert haben, dann festigt sie sich mit Blut, das sie oft mit eigener Hand vergießt. „Das ritualisierte Menschenopfer mag von den Eliten als göttlich sanktioniertes Mittel der sozialen Kontrolle benutzt worden sein“, schließt Watts (Nature 4. 4.).

War es überall so? Im frühen Südamerika, wo auch Ströme von Blut auf Altären flossen, waren die Opfer keine schlecht behandelten Underdogs wie in Austronesien, sondern oft Hochgestellte, die vor ihrem Tod mit größten Ehren (und üppigsten Speisen) versehen wurden, dort hatten die Zeremonien wohl einen anderen Hintergrund.

Müssen sie uns interessieren, diese alten Geschichten? „In Austronesien ging es darum, Tabubrüche zu ahnden und die Unterklasse zu demoralisieren“, spinnt Anthropologe Michael Winkelman (Arizona State University) den Faden weiter (Naturenews 4. 4.): „Ich vermute, dass in Watts' Arbeit Generelles über das sozial legitimierte Töten steckt.“ Gemeint ist das heutige, die Todesstrafe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.