Wird der Krötenküsser wach geküsst?

Funde der Epigenetik regen neue Beschäftigung mit dem Biologen Paul Kammerer an.

Am 23. September 1926 wurde auf dem Schneeberg ein Selbstmörder gefunden, er hatte einen Zettel bei sich: „Dr. Paul Kammerer ersucht, nicht nach Hause gebracht zu werden“, man möge die Leiche der Wiener Anatomie überlassen: „Vielleicht finden die werten Kollegen in meinem Gehirn eine Spur dessen, was sie an lebenden Äußerungen meiner geistigen Tätigkeit vermissten.“

Eine Spur wovon? Vom Genie eines „zweiten Darwin“? Manche nannten den Zoologen (und Komponisten) so. Er hatte zu Jahrhundertbeginn an Amphibien gezeigt, dass auch erworbene Eigenschaften vererbt werden können, dass also Darwin der Ergänzung um Lamarck bedurfte. Im zentralen Experiment brachte er Geburtshelferkröten in eine ihnen fremde Umwelt: Anders als andere Kröten reproduzieren sich diese Tiere an Land, auch die Eier werden dort gelegt, die Männchen tragen sie dann mit sich. Aber Kammerer setzte Tiere in ein überhitztes Terrarium, sie flüchteten ins Wasser und reproduzierten sich dort.

Dabei entwickelten die Männchen etwas, was Kröten, die sich stets im Wasser reproduzieren, immer schon haben: Schwielen an den Händen, zum Festhalten bei der Kopulation. Diese Anpassung an die Umwelt wurde an die Folgegenerationen weitergegeben, gut sichtbar; die Schwielen waren schwarz (und die Kröten wurden größer). Kammerer züchtete viele dieser Wundertiere, stellte sie Kollegen international zur Verfügung. Aber dann kam der Weltkrieg, am Ende war nur noch ein totes Tier da. Und das Schwarz in seinen Schwielen kam von eingespritzter Tinte. Ein britischer Biologe bemerkte das und publizierte es in „Nature“.

Der Skandal war enorm, Kammerer galt als Fälscher. Es ist nicht klar, ob er sich deshalb erschoss (er stand vor der Übersiedlung in ein Labor nach Moskau, wo Lamarck Ansehen genoss). Es ist auch nicht klar, ob er ein Fälscher war. Arthur Koestler versuchte sich an der Rehabilitierung des „Krötenküssers“ (so der deutsche Titel seines Buches „The case of the midwife toad“, 1971). Aber Koestler war Schriftsteller, für die Biologen blieb Lamarck ein Tabu, bis in die 1990er-Jahre; seitdem kommt er durch Nebentüren zurück. Sie tragen den Titel Epigenetik, das meint die Steuerung der Genaktivitäten durch chemische Modifizierungen, etwa das Anhängen von Methylgruppen. Die Gene selbst bleiben klassisch darwinistisch unverändert, mag die Umwelt sein, wie sie wolle; aber die Methylierung kann von der Umwelt beeinflusst werden, insofern gibt es erworbene Eigenschaften. Und das kann vererbt werden.

Man weiß es etwa von Mäusen: Bekommen trächtige Weibchen besonderes Futter, wird die Umwelt im Uterus so verändert, dass die Töchter eine andere Fellfarbe haben – und die Enkel haben diese Farbe auch. Noch etwas hat man bei Mäusen bemerkt: „imprinting“. Manche Gene werden von den Vätern/Müttern mit Methylierungen markiert, auf dass sich in den Jungen (nur) ihre Gene durchsetzen und nicht die des Partners (dabei geht es etwa um die Größe der Jungen, man erinnere sich, dass sich die auch bei den Kröten änderte). Etwas Ähnliches fiel Kammerer auf, als er Wasser-Geburtshelferkröten mit normalen paarte: Die Enkel fielen nicht nach Mendels Gesetzen aus; ihre Eigenschaften hingen vielmehr daran, ob der Großvater (nicht: die Großmutter) ein Wasser- oder Landtier war.

Kammerer hat das mit Staunen in seinen Laborbüchern vermerkt, Alexander Vargas (University of Chile, Santiago) hat es ausgehoben und eine neue Lesart von Kammerer unter Gesichtspunkten der Epigenetik angeregt. Vor allem regt er neue Experimente an, die von Kammerer wurden nie wiederholt (Journal of Experimental Zoology, 2.9.).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2009)

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