„Der Antijudaismus ist noch nicht überwunden“

(c) REUTERS (GIL COHEN MAGEN)
  • Drucken

Negatives in der Bibel wurde oft dem Alten Testament und damit dem Judentum zugeschrieben. Die Theologie müsse diese „Schuldgeschichte“ reflektieren, sagt die Grazer Bibelwissenschaftlerin Irmtraud Fischer.

„Der Dialog mit dem Islam ist so dominant, dass das Gespräch mit dem Judentum unterzugehen droht“, sagt Irmtraud Fischer, Professorin für alttestamentliche Bibelwissenschaften an der Universität Graz. Migrations- und Fluchtbewegungen beeinflussten die Themen, die in der Aufnahmegesellschaft relevant werden. Die Theologin fordert dazu auf, sich nicht zu selektiv auf den Islam zu konzentrieren: Sie fürchtet um die Errungenschaften des christlich-jüdischen Dialogs in Österreich. „Der Antijudaismus ist noch nicht überwunden“, sagt Fischer. In ihrem jüngsten Forschungsprojekt hat sie die christlich-jüdische Versöhnung nach 1945 analysiert.

„Wenn auch christliche Kirchen nicht direkt an der Erarbeitung und Verbreitung des arischen und antisemitischen Gedankenguts beteiligt waren, ließen sich viele Theologen doch von den Ideen der Nationalsozialisten beeinflussen“, sagt Fischer. Der Boden für antisemitische Gedanken war bereitet und Jüdisches wurde automatisch abgewertet. Daher galt das Alte Testament als Verheißungserzählung, nicht aber als Erfüllung. Die positive Bedeutung der Bibel wurde nur dem Neuen Testament zugebilligt.

In dieser Tradition steht, dass Negatives in der Bibel, wie Gewaltpassagen oder Flüche, dem Alten Testament und damit dem Judentum zugeschrieben wurde. „Diese Schuldgeschichte muss die Theologie reflektieren“, fordert die Bibelwissenschaftlerin. „Die rund sechs Millionen ermordeten europäischen Juden öffneten die Augen vieler Theologen“, sagt Fischer.

Shoah markierte Wendepunkt

Die Tragödie markierte in der christlichen Theologie den Wendepunkt in der Haltung zum Judentum und damit zum ersten Teil ihrer „Heiligen Schriften“. Fischer fragt in einem jüngst abgeschlossenen, vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Forschungsprojekt, wie die theologische Neuorientierung nach der Shoah ablief. Ziel des Forschungsprojekts war herauszufinden, in welcher Weise die alttestamentliche Auslegungsgeschichte den in der christlichen Theologie lange Zeit überlieferten antijüdischen Klischees begegnete und wie sehr sie diesen entgegenwirken konnte. Dazu analysierte sie den christlich-jüdischen Dialog in Deutschland und Österreich, dessen Grundlage alttestamentliche Texte bildeten.

Sie wurden in den Gesprächsprozessen verwendet, in denen sich ehemalige Regimeanhänger, gläubige Juden und Christen, Wissenschaftler und Interessierte trafen und Texte auslegten. Der theologische Erneuerungsprozess nach 1945 vollzog sich auf Ebene der offiziellen Beziehungen zwischen Kirchen und jüdischen Gemeinschaften sowie auf Ebene des „jüdisch-christlichen“ Gesprächs an der Basis. Diese Gesprächsrunden sollten den Graben zwischen Christentum und Judentum überwinden.

„Es war ein Gemenge aus Schuldbewusstsein, Reflexion und dem Willen, miteinander ins Gespräch zu kommen“, sagt Fischer über die Motivation der Teilnehmenden. Seit 2007 gibt es in Österreich aber keine offiziellen Gespräche mehr, denn die Österreichische Christlich-Jüdische Bibelwoche in Graz wurde ersatzlos gestrichen.
Zehn Jahre später, im Sommer 2017, startet Fischer ein neues jüdisch-christliches Dialogprojekt. Das Folgeprojekt mit einem internationalen und interreligiösen Board soll die europäischen Religionsgespräche neu kultivieren und das Vergessen verhindern. [ Uni Graz]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.