Migranten entscheiden: Gehen oder bleiben?

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FRANCE-BRITAIN-EUROPE-MIGRANTS-DEMOLITION-CALAIS(c) APA/AFP/PHILIPPE HUGUEN
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Regionalstudien. In Niederösterreich reichen die Themen Migration und Ernährungsunsicherheit lange zurück. Einige Aspekte dieser Gebiete sind bis heute kaum erforscht. Zwei Forschungsverbünde wollen die Lücken schließen.

Das Ende der Glanzstoff-Fabrik in St. Pölten 2008 kam für die rund 300 Mitarbeiter unerwartet. Viele sind aus der Türkei oder Tunesien zugewandert oder als Nachkommen der Gastarbeiter in St. Pölten aufgewachsen. Die ehemalige Belegschaft der Glanzstoff-Fabrik ist für die staatlich regulierte Arbeitsmigration ab Mitte der 1960er-Jahre in Niederösterreich beispielhaft. Während die einen jedoch blieben, verließen andere wieder das Land.

Das wirft Fragen auf, mit denen sich die Soziologin Anne Unterwurzacher vom Zentrum für Migrationsforschung in St. Pölten befasst. Im Forschungsprojekt „Weiterwandern oder Bleiben? Migrantische Lebensstrategien und Aneignungspraktiken am Beispiel der angeworbenen Belegschaft der St. Pöltner Glanzstoff-Fabrik (1964 – heute)“ begibt sich die Forscherin auf Spurensuche.

Unterstützt wird sie von Ekrem Arslan, dessen Vater in der Glanzstoff-Fabrik arbeitete. Individuelle Migrationserfahrungen beleuchten die Forscher genauso wie die Veränderung St. Pöltens durch die Zuwanderung.

Migration reicht aber auch in Niederösterreich viel weiter zurück. Sie betrifft jeweils ganz verschiedene Personengruppen: Menschen aus der ländlichen Unterschicht genauso wie Adelsfamilien, galizische Juden, Vertriebene, Zwangsarbeiter und heutige Flüchtlinge.

Ländlicher Raum im Fokus

Ihre Schicksale und Erfahrungen werden in fünf weiteren Projekten an mehreren Forschungsinstitutionen in Niederösterreich erforscht. Die Zeitspanne reicht vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Die thematische Fokussierung von mehreren, eher kleinen Institutionen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften ermöglicht nun das im Frühjahr gegründete Forschungsnetzwerk Interdisziplinäre Regionalstudien (FIRST). In zwei Forschungsverbünden zu Migration und Nahrung beschreiten die Forschenden oft unbekanntes Terrain. Denn dem ländlichen Raum und dessen Bevölkerung war bisher oft wenig Beachtung geschenkt worden.

Hunger – historisch betrachtet

„Brisante Themen wie Ernährungsarmut und Mangelernährung blieben weitgehend unberücksichtigt“, betont der Historiker Ulrich Schwarz, „obwohl die historisch-kulturwissenschaftliche Erforschung von Ernährungspraktiken jüngst eine Konjunktur erlebt.“ Der Geschäftsführer des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten leitet den Forschungsverbund Nahrung.

Darin widmen sich fünf Forschungsprojekte dem Mangel und der Frage, welche Strategien die Menschen vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart entwickelten, um damit umzugehen.

So ist etwa weder bekannt, wie die Nahrungsmittelversorgung in frühneuzeitlichen Bürgerspitälern ablief, noch wie sich die jüdische Bevölkerung Niederösterreichs im Ersten Weltkrieg koscher ernähren konnte.

„Quellenbestände zu finden, die Erkenntnisse über den alltäglichen Zugang von marginalisierten Gruppen zu Nahrung liefern, ist eine Herausforderung und führt in die unterschiedlich aufgestellten Gemeindearchive“, sagt Schwarz. Die Ergebnisse beider Verbünde werden als Beitrag zur Bewältigung aktueller Herausforderungen rund um Ernährungssicherung und Migration betrachtet.

LEXIKON

FIRST heißt das Forschungsnetzwerk Interdisziplinäre Regionalstudien, das durch das FTI-Programm NÖ gefördert wird und die Forschungsverbünde Migration und Nahrung durchführt. Das Management befindet sich an der Donau-Universität Krems. Sechs Institutionen arbeiten zusammen, etwa das Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit, das Institut für jüdische Geschichte Österreichs und das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2016)

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