Nahrung gegen Gewalt: Kriminalität wegessen?

(c) AP (Eric Risberg)
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Britischer Forscher empfiehlt Zusatzstoffe in der Nahrung, US-Spezialisten setzen auf Medikamente. In einem Versuch mit 231 Hälftlingen konnten Präparate Gewalt um 32 Prozent senken.

Im Gefängnis Polmond in Schottland sitzen 700 junge Männer, alle wegen extremer Gewalt. Die hört hinter den Mauern nicht auf, aber auf einem Stock, dem schlimmsten, wurde es von 2000 bis 2002 ruhiger: 231 Häftlinge nahmen an einem Test teil, der aus nichts anderem bestand als einer Anreicherung des – notorisch dürftigen – Essens mit einer Pille, in der Vitamine, Mineralstoffen und Fettsäuren waren (bei der Kontrollgruppe: Stärke). Das senkte die Gewalt um 32 Prozent.

Die Idee, dass Ernährung und (anti-)soziales Verhalten miteinander zu tun haben, ist nicht neu, 1892 berichtete der italienische Kriminologe Cesare Lombroso, dass bombenwerfende Anarchisten oft an Pellagra litten, einer Fehlernährung durch viel Mais und wenig Vitamin B. Richtig losgehen sollte es 1960, als Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling eine „orthomolekulare Psychiatrie“ vorschlug, die die „Behandlung psychischer Krankheiten durch die Bereitstellung einer optimalen molekularen Umwelt für den Geist“ versprach. In der Forschung folgte dem niemand, sie wandte sich eher ab.

Aber Mitte der 80er kam Bernhard Gesch, Kriminologe in Oxford, mit Häftlingen in Polmond in Kontakt: Er lud manche zum Kochen und Essen ein, wollte eine Ersatzfamilie bieten – und merkte, dass die soziale Wärme weniger wichtig war als die Qualität des Essens. So brachte er es zum Experiment von 1990. Seit dem heurigen Frühjahr läuft ein neues, umfangreicheres, es soll klären, was die Aggression hemmt. Im Essen ist viel, „und bei der Ernährung geht es um die Balance“, erklärt Gesch, „es ist nicht so wie in der Pharmakologie“ (Science, 325, S.1614).

Auf die setzt eine Strategie, die Dave Marcotte (UMBC) und Sara Markowitz (Emory) empfehlen. Sie stützen sich auf ein „natürliches“ Experiment: In den USA gingen in den 90er-Jahren die Gewaltverbrechen stark zurück, niemand weiß, warum. Die Wirtschaft blühte – die mit ihr einhergehende Kriminalität auch –, es gab keine sozialen Verwerfungen. Zwar kam mehr Polizei, aber die erklärt wenig. Für die Hauptsache gibt es zwei Hypothesen: In den 70ern wurde die Abtreibung erleichtert, es kamen weniger Neugeborene in schlechte Lagen; in den 90ern wurden Wasserleitungen erneuert, die aus gehirnschädigendem Blei wurden entsorgt.

Psychopharmaka gegen Gewalt

Zeitgleich kam die Pharmaindustrie mit neuen Medikamenten für psychische Leiden, darauf stützen Marcotte/Markowitz ihre Hypothese: Vor allem Antidepressiva und Stimulantien hätten umwegig zur Senkung der Gewaltkriminalität beigetragen. Wodurch? Durch eine Klärung des Blicks auf Handlungsfolgen: Strafen. Zwar ist ganz unklar, ob die Medikamente wirklich von potenziellen Gewalttätern genommen wurden – es gibt nur Daten für die gesamte Bevölkerung –, aber die Forscher nehmen das als Argument für sich und empfehlen eine Verdoppelung der derzeitigen Verschreibungen: Das brächte 78.000 Gewaltverbrechen im Jahr weniger (NBER Working Paper 15354).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2009)

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