Ostasiatische Gesellschaft: Laotse, Instrument der Evolution?

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Die kollektivistischen Gesellschaften Ostasiens sollen zur Milderung der Folgen einer Genvariante entstanden sein, die depressiv machen kann.

Gene können Angst machen, man weiß es vor allem von einem, das beim Transport des Neurotransmitters Serotonin im Gehirn mitspielt, 5-HTTLR. Dieses Gen kommt in zwei Varianten, einer kurzen und einer langen. Wer die kurze hat, ist generell ängstlicher und enger im Blick, der richtet sich vor allem auf Negatives und potenziell Bedrohliches, häufig findet sich die Variante bei psychischen Erkrankungen wie Depression.

Das zeigte sich zumindest in westlichen Gesellschaften, die die Forschung lange bevorzugt in den Blick nahm, hier haben 40 bis 45Prozent die kurze Variante, offenbar unterliegt sie keiner Selektion, wird weder bevorzugt noch weggeschafft, sie muss auch unbekannte Vorteile bringen. Im (Fernen) Osten ist alles ganz anders: Dort haben 70 bis 80Prozent die kurze Variante. Aber die psychischen Leiden sind seltener. Wie lässt sich das erklären? Mit Sokrates und Laotse bzw. den von ihnen verkörperten Menschen- und Gesellschaftsbildern, vermuten Joan Chiao und Katherine Blizinsky (Northwestern University, Evanston): Sokrates steht für das Individuum, das sich aus dem sozialen Verband heraushebt bzw. ihn locker hält, Laotse für Menschen, die in Gemeinschaften aufgehen und Harmonie suchen, „Individualismus“ vs. „Kollektivismus“.

„Anti-Psychopathologie-Funktion“

Diese sozialen Organisationsformen und Menschentypen – bzw. die Religionen, mit denen sie einhergehen – sind möglicherweise Antworten auf biologische Herausforderungen: Sie haben eine „Anti-Pathogen-Funktion“, vermutet Corey Fincher (University of New Mexiko). Ihm fiel auf, dass kollektivistische Gesellschaften und ihre Glaubenssysteme dort vorherrschen, wo Epidemien wüten, Malaria, Typhus, Lepra. Die könnten durch kollektivistische Gesellschaften „gepuffert“ werden, weil ihre Mitglieder sich in der Enge der Familienverbände halten und Krankheitserreger nicht weit verschleppen (Proceedings B, 257, S.1279).

Allerdings gab es auch im Westen Epidemien (und Individualismus/Kollektivismus lässt sich ohne Biologie erklären: Seefahrt/Handel in Athen, Agrikultur in Ostasien). Aber nun finden Chiao/Blizinsky noch etwas Gesundes im Kollektivismus, eine „Anti-Psychopathologie-Funktion“: Diese Gesellschaft puffert den sozialen Stress, der im Verein mit der kurzen Genvariante zu Depression führen kann. Es gibt mehr gegenseitige Obsorge, diese Gesellschaft bietet Schutz. Sie braucht aber auch immer den Blick auf potenziell Bedrohliches – Störenfriede –, deshalb wirkt sie selbst als selektive Kraft und sorgt für die Verbreitung der kurzen Genvariante. Für Chiao/Blizinsky ist das ein seltenes Beispiel für „Koevolution von Kultur und Genen“ (Proceedings B, 28.10.).

Es könnte allerdings auch viel banaler sein mit der Seltenheit psychischer Leiden im Osten: Zur kollektivistischen Kultur gehört, dass man nicht zeigt, wie es einem geht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2009)

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