Warum nur sind im Norden alle geschrumpft?

Als Menschen aus Afrika auswanderten, wurden sie ein wenig kürzer. Und sie handelten sich ein erhöhtes Arthroserisiko ein. Die Mutation muss starke Gründe gehabt haben, auch Neandertaler hatten sie.

Als die Menschen aus Afrika auswanderten, erst nach Asien, dann nach Europa, änderten sie nicht nur die Farbe ihrer Haut und teilweise auch die ihrer Haare, sie wurden auch kleiner, im Durchschnitt um einen Zentimeter. Das klingt nach wenig, ist aber deshalb spannend, weil die Genetik des Längenwachstums weithin ungeklärt ist. Der eine Zentimeter bildet eine Ausnahme, für ihn sorgen Punktmutationen in zwei Genomabschnitten: Die eine betrifft direkt ein Gen, das beim Wachsen von Knochen und Knorpeln mitspielt (GDF5), die andere liegt auf einem relativ weit entfernten Genomabschnitt, sie regelt als Verstärker mit, wie aktiv das Gen ist (GROW1). Vergleichbare Komplexitäten kennt man von der blauen Augenfarbe und der Laktosetoleranz, die dafür sorgt, dass in manchen afrikanischen Populationen auch Erwachsene Milch vertragen (die Mehrheit der Menschheit tut es nicht, wir schon, es ist aber anders zustande gekommen als bei den Afrikanern).

Allerdings muss für blaue Augen oder Laktosetoleranz kein Preis bezahlt werden, der für die leichte Schrumpfung hingegen ist hoch: Die Mutation, die früh im Leben das Wachstum in Grenzen hält, kann spät im Leben zu bösen Leiden in Knochen und Gelenken beitragen, vor allem zu Arthrose, sie bedroht Milliarden Menschen im Norden, in Afrika ist sie eher selten.

Schutz vor dem Auskühlen?

Warum ist die Mutation dann noch da, warum hat die Evolution sie nicht schon lang abgeschafft? Weil Arthrose erst im Alter kommt, für gewöhnlich nach dem Ende der Reproduktionsfähigkeit, an dieser Lebensphase ist die Evolution nicht interessiert. Härter ist das Rätsel, wozu die Mutation bzw. eine Verkürzung des Körpers gut war. Es gibt nur Hypothesen, eine setzt auf die Temperatur bzw. „Allen's Rule“: Diese postuliert, dass in kühleren Regionen die Gliedmaßen kürzer bleiben, weil dem Körper dann weniger Wärme verloren geht. Dazu passt, dass der Zentimeter nur im Stehen fehlt, nicht im Sitzen, die Länge des Rumpfs blieb unverändert.
Vielleicht hilft der Zentimeter in rutschigem Gelände – Schnee und Es –, vielleicht beim Erklimmen von Bergen, vielleicht mildert er die Bruchgefahr bei Stürzen. David Kingsley (Harvard), der die rätselhafte molekulare Identität von Schrumpfung und Arthroserisiko bemerkt hat, mustert viele Möglichkeiten durch (Nature Genetics, 3. 7.). Eine wirklich überzeugende findet er nicht.

Aber es muss eine geben: Die Punktmutationen kamen nicht nur vor 70.000 Jahren, als H. sapiens aus Afrika auswanderte, auch die viel früher nach Eurasien gekommenen Neandertaler und Denisova-Menschen hatten sie. Und soweit man es rekonstruieren kann, haben sie sie nicht in unsere Ahnen eingekreuzt, sondern diese haben sie selbst noch einmal entwickelt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2017)

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