Verschleppt, vernichtet, vergessen

Todesmarsch ungarischer Juden in Hieflau.
Todesmarsch ungarischer Juden in Hieflau.Nachlass Walter Dal-Asen
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Eine Ausstellung über das größte Zwangsarbeiterlager in Graz zeigt die neuesten Forschungsergebnisse zu einem lang verdrängten Kapitel in der Geschichte der Stadt.

Ein Kinderspielplatz mit Skatepark, von Bäumen gesäumte Wohnstraßen, ein großes Sportzentrum mit zahlreichen Tennisplätzen nahe der Mur – im Norden des siebten Grazer Stadtbezirks Liebenau scheint das Leben heutzutage ein angenehmes zu sein. Ein krasser Kontrast zur Vergangenheit des Viertels: In der Zeit des Nationalsozialismus wurden hier Tausende Zwangsarbeiter unter schlimmsten Bedingungen in Holzbaracken gezwängt, ungarische Juden mussten auf den Todesmärschen in Richtung Mauthausen Zwischenstation im Lager Liebenau einlegen. Erniedrigungen, Misshandlungen, Hunger, Seuchen waren an der Tagesordnung, zu Kriegsende kam es zu Massenexekutionen.

Dieser düstere Teil der Liebenauer Geschichte ist nicht nur aus dem Stadtbild verschwunden, auch aus dem öffentlichen Bewusstsein war er für Jahrzehnte verdrängt. Selbst unter Historikern war vieles unbekannt, wie sich Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, erinnert. Als sie in den 1990er-Jahren die Zwangsarbeit während der NS-Zeit in Graz erforschte, stieß sie auf die Akten der Militärgerichtsprozesse, die den Verantwortlichen des Lagers Liebenau nach Kriegsende gemacht worden waren. „Das war unglaublich, da sind diese Kriegsendphaseverbrechen in Graz, meiner Heimatstadt, passiert, und ich hatte bis dahin noch nie etwas davon gehört“, beschreibt Stelzl-Marx ihre erste Reaktion.

Öffentlichkeit durch Kraftwerk

Sie verfasste einige Aufsätze zu dem Thema, die jedoch keine große öffentliche Aufmerksamkeit erregten. Auch als 1992 beim Bau eines Kindergartens zwei Skelette gefunden wurden, tat sich wenig. Erst als knapp 20 Jahre später ein Wasserkraftwerk an der Mur errichtet werden sollte, dessen begleitende Baumaßnahmen auch das ehemalige Lagerareal tangierten, rückte die Frage, welche Reste der NS-Vergangenheit dort noch verborgen lagen, in den Fokus der Öffentlichkeit.

Die Stadt Graz und Energie Steiermark förderten daraufhin eine Studie, in der Stelzl-Marx mit Archivmaterial und zeitgenössischen Medienberichten die Geschichte des Lagers rekonstruierte. 2015 wurde das Gebiet als Bodenfundstelle ausgezeichnet, Grabungen konnten nun archäologisch begleitet werden. Gemeinsam mit Dokumenten aus Privatsammlungen, die erst vor Kurzem entdeckt wurden, sind die Ergebnisse dieser intensiven Forschungsarbeiten nun der Öffentlichkeit zugänglich. Die vergangenen Mittwoch eröffnete Ausstellung „Lager Liebenau. Ein Ort verdichteter Geschichte“ zeigt bis 8. April 2019 im Graz-Museum eine umfangreiche Sammlung an Dokumenten, Fotos und Fundstücken. In fünf Themencluster unterteilt, liefert sie neue Einblicke, etwa in das Innenleben des Lagers, die Verbrechen der Endphase oder deren Aufarbeitung durch die Nachkriegsjustiz.

Unter anderem werden hier bisher unveröffentlichte Exponate ausgestellt, wie das Wörterbuch eines sowjetischen Häftlings, anhand dessen das Lagerleben rekonstruiert wurde. Ziel der Ausstellung sei es, der Öffentlichkeit „einen Wissensstand, so wie er jetzt ist“ zu präsentieren, sagt Barbara Stelzl-Marx, die auch als Kuratorin verantwortlich zeichnet. Dazu sei auch der reich illustrierte Begleitband erstellt worden (erschienen im Leykam-Verlag, 20 Euro), der ausführliche Hintergrundinformationen liefert.

Gedächtnisort schaffen

Bleibt die Frage, wie man einem erneuten Vergessen entgegenwirken kann. Die Ausstellung selbst sei genau dafür ein wichtiger erster Schritt, betont Stelzl-Marx, darüber hinaus setzt sich eine Bürgerinitiative, gegründet von dem Grazer Arzt Rainer Possert, seit vielen Jahren dafür ein, auf dem Gelände einen dauerhaften Gedächtnisort zu schaffen. Bei seinen Bemühungen um eine angemessene Aufarbeitung der Geschichte stößt er jedoch auf einige Hürden, die Possert in einem Text des Ausstellungskatalogs beschreibt.

So seien ausgegrabene und denkmalgeschützte Bunker im Zuge von Bauarbeiten erneut unsichtbar gemacht worden, geplante Sozialwohnungen ließen „ethische Fragestellungen unbeantwortet“. Barbara Stelzl-Marx ist dagegen optimistisch: Die Stadt tue „alles, damit den Opfern in einer würdigen Form gedacht wird“. In Planung seien Infotafeln, eine Gedenkstätte in Form eines Kunstwerks sowie möglicherweise eine Dauerausstellung.

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IN ZAHLEN

Zwangsarbeiter wurden laut einer ersten Auswertung einer Meldekartei zwischen 1941 und 1945 im Lager Liebenau untergebracht.

Holzbaracken standen im Lager, circa acht Meter breit, 20 Meter lang, drei Meter hoch. Im März 1944 wurden in einer solchen Baracke 197 Personen gezählt.

Insassen waren jünger als 15 Jahre. Mindestens 64 Kinder kamen im Lager Liebenau zur Welt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2018)

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