Wittgenstein-Preis: "Nicht nur auf Eliten setzen!"

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Demograf Wolfgang Lutz erhält 2010 den hohen Preis. Bei aller Exzellenz betont er, wie wichtig die Bildung der breiten Masse für Gesellschaften ist.

Wien sei das „Epizentrum der Demografie in Europa“, das habe ihm ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank gesagt, erzählt Wolfgang Lutz – mit berechtigtem Stolz: Denn er hat sehr viel dazu beigetragen, die Demografie, die in Österreich wie in Deutschland durch ihren Missbrauch in der NS-Diktatur kompromittiert war, auf internationales Niveau zu bringen. Auch dafür hat er nun den Wittgenstein-Preis bekommen, den höchstdotierten österreichischen Wissenschaftspreis, der seit 1996 durch den Wissenschaftsfonds FWF vergeben wird.

Lutz ist der erste Sozialwissenschaftler, der diesen Preis erhält: Er hat sich 1988 an der Uni Wien in Demografie und Sozialstatistik habilitiert. Sein Interesse an der Demografie wurde schon früh geweckt: Als er 15 war, erzählte ihm sein Vater über einen Vortrag des Statistikers Gerhart Bruckmann zum Thema „Die Grenzen des Wachstums“. Er als Historiker könne da nicht viel tun, meinte der Vater: Sein Sohn möge versuchen, die Zukunft zu verändern.

Zumindest versucht er, sie zu prognostizieren. Dafür sind die Voraussetzungen in der Demografie besser als in der Ökonomie, weil die Entwicklungen gleichmäßiger sind, erklärt Lutz. Trotzdem müsse man Prognosen immer wieder korrigieren: So habe seine Zunft den Rückgang der Geburten genauso unterschätzt wie den Anstieg der Lebenserwartung – womit das Problem der Überalterung gleich aus zwei Gründen gravierender sei als prognostiziert. Dazu kommt, dass Frauen immer später gebären, die Abstände zwischen den Generationen wachsen.

Europa schrumpft beträchtlich

Dass die Überalterung nicht nur die klassischen industrialisierten Länder betrifft, dass das globale Bevölkerungswachstum langsamer wird – das hat Lutz vorhergesagt, und das hat ihm viel internationale Beachtung gebracht. Seine Arbeiten erscheinen in Topzeitschriften. In Science publizierte er etwa 2003 die Prognose, dass die Bevölkerung Europas bis 2100 beträchtlich schrumpfen werde.

Man könne die geringere Zahl durch bessere Ausbildung kompensieren, meint Lutz. Er interessiert sich zunehmend für „weiche“ Themen der Demografie, die über Geburten- und Sterbezahlen hinausgehen. Etwa eben für Bildung. Hier äußert er sich auch gegen den Zeitgeist, der nur von Eliten und Exzellenz schwärmt. Ein empirischer Vergleich habe gezeigt, dass für den Wohlstand einer Gesellschaft nicht nur die Spitze wichtig ist, sondern auch die Bildung der breiten Masse, vor allem ein gutes Sekundarschulniveau, sagt Lutz. „Es ist kontraproduktiv, nur einseitig auf Eliten zu setzen. Die Pyramide muss an der Basis breit genug sein. Auch kriegt die Exzellenz Probleme, wenn es keine Wertschätzung in der breiten Bevölkerung gibt.“ Die Bildung breiter Bevölkerungsschichten wurde z.B. in Indien – im Unterschied zu China – tendenziell vernachlässigt, meint er, und das werde sich noch auswirken. Der österreichischen Bildungspolitik empfiehlt er ganz klar 1)eine Gesamtschule mit innerer Differenzierung und 2)eine Regelung des Hochschulzugangs. Ministerin Beatrix Karl, die bei der Bekanntgabe des Preises vorn dabei war, hört das gewiss mit Wohlgefallen.

Lutz sieht auch einen starken Zusammenhang zwischen Bildungsgrad der breiten Bevölkerung und der Demokratie. Der Iran etwa mache „phänomenale Fortschritte in der Bildung“, diagnostiziert er – und wagt eine Prognose: Binnen der nächsten 20 Jahre werde sich deshalb dort eine moderne Demokratie etablieren.

Forschungszentrum für „Human Capital“

In Wien hat Lutz drei institutionelle Standbeine: das International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in Laxenburg, an dem er seit 1984 arbeitet und seit 1994 das „World Population Program“ leitet, das Institut für Demografie der Akademie der Wissenschaften, dessen Direktor er ist, und die Wiener Wirtschaftsuni, an der er Professor für Sozialstatistik ist. Mit dem Geld aus dem Wittgenstein-Preis und dem „Advanced Grant“ des Europäischen Forschungsrats will Lutz nun ein „Research Center for International Human Capital“ aufbauen, das von allen dreien „seiner“ Institutionen getragen wird.

ZUR PERSON

Wolfgang Lutz wurde 1956 in Rom geboren, als sein Vater, ein Historiker, dort an den Vatikanischen Archiven forschte. Er maturierte am Wiener Schottengymnasium, studierte Philosophie, Mathematik und Theologie in München, dann Soziologie in Wien. Seit 2002 ist er Direktor des Instituts für Demografie in Wien. 2008 erhielt er den „Advanced Grant“ des Europäischen Forschungsrats.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2010)

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