Higgs-Teilchen gefunden? Umstrittenes CERN-Dokument

(c) AP (MARTIAL TREZZINI)
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Wurde das seit Jahrzehnten gesuchte Teilchen, das allen anderen Elementarteilchen ihre Masse verleihen soll, endlich gefunden? Oder sind die Physiker einem Jux aufgesessen?

Kaum zwei Wochen ist es her, dass Forscher im US-Teilchenlabor Fermilab aufgeregt darüber spekuliert haben, dass sie ein neues Elementarteilchen gefunden haben könnten, da geistert schon der nächste Hype durch die Physikerwelt: Das Higgs-Teilchen (als Feldteilchen auch „Higgs-Boson“ genannt) sei endlich nachgewiesen.

Die Existenz dieses Elementarteilchens wurde vor über 40 Jahren erstmals postuliert, die Physiker suchen es seither bei zunehmenden Energien mit zunehmender Dringlichkeit; eines der Hauptargumente für den zirka drei Milliarden Euro schweren Bau des Teilchenbeschleunigers „Large Hadron Collider“ (LHC) des CERN in Genf war es, dass man das Higgs dort zu finden hoffe.

Just genau oberhalb der Untergrenze

Ausgelöst wurde der Higgs-Hype ausgerechnet durch einen Mann, der wilde Spekulationen seiner Kollegen gern skeptisch und ein wenig ironisch behandelt: Peter Woit, der sich mit seinem Buch „Not Even Wrong“ alle Superstring-Physiker zu Feinden machte, weil er ihnen gerade heraus sagte, dass ihre Theorien „nicht einmal falsch“ seien – denn sie seien so weit weg von der experimentell erfassbaren Wirklichkeit, dass sie nicht falsifiziert werden können. Und das ist seit Sir Karl Popper das Kriterium für jede wissenschaftliche Theorie.

Auf seinem (empfehlenswerten) Blog (www.math.columbia.edu/~woit) präsentierte Peter Woit nun „This Week's Rumor“: ein ihm zugetragenes Abstract einer „internal note“ der Physiker, die am Atlas-Detektor des LHC arbeiten. In diesem Abstract – darunter verstehen die Naturwissenschaftler die Inhaltsangabe einer wissenschaftlichen Publikation – ist von einer „γγ resonance around 115 GeV/c2“ die Rede. Das würde bedeuten, dass Teilchen mit einer Masse von 115 GeV/c2 (in dieser Energieeinheit geben die Teilchenphysiker die Massen an) in zwei Photonen zerfallen sind. Ein wenig verdächtig ist, dass es just diese Masse sein soll: Denn die Teilchenphysiker sind sich einig, dass 114,1 GeV/c2die Untergrenze für die Masse des Higgs-Teilchen ist – hätte es eine geringere Masse, dann hätte man es schon finden müssen, sagen sie.

Das kommt wohl auch Woit verdächtig vor. Es handle sich höchstwahrscheinlich entweder um einen „hoax“ (einen Jux) oder um „etwas, das durch weitere Analysen wieder verschwinden wird“, schreibt er. Noch deutlicher wird Tommaso Dorigo, ein Teilchenphysiker, der sowohl am Fermilab als auch am CERN arbeitet. Er schreibt in seinem Blog: „Ich wette 1000 Dollar mit jedem, der eine Reputation in der Teilchenphysik hat, dass dieses Signal nicht durch Zerfälle von Higgs-Bosonen entstanden ist. Ich bin bereit zu wetten, dass das kein neues Teilchen ist. Drücke ich mich klar genug aus?“

„Mach dir nichts daraus, Higgs-Boson!“

Ein anderer Physiker, Sean Carroll vom California Institute of Technology, wandte sich in einem Tweet gleich direkt an das angeblich gefundene Teilchen: „Mach dir nichts daraus, Higgs-Boson! Ich würde nie gemeine Gerüchte über dich verbreiten – im Unterschied zu manchen Leuten.“

Wenn Dorigo – was unwahrscheinlich ist– seine 1000 Dollar Wetteinsatz verlieren sollte, dann wäre das für die Physiker, je nach Charakter, aufregend oder enttäuschend. Denn die Rate der „events“, in denen das fragliche Teilchen zerfallen sein soll, ist viel zu hoch: 30-mal so hoch, wie die Theorie voraussagt.

Ein Freund der Supersymmetrie jubelt

Das würde heißen, dass es das Higgs-Teilchen zwar gibt, dass es aber andere Eigenschaften hat, als die Theoretiker voraussagen. Womit es erst recht wieder nicht ins Standardmodell der Teilchenphysik passen würde. In dieser soll es ja eine Zwitterstellung haben: Einerseits soll es das Standardmodell perfektionieren, andererseits weist es darüber hinaus – als Feldteilchen, das nicht zu einer der vier Grundkräfte gehört. So melden sich auch schon Physiker, die an Theorien basteln, die weit über das Standardmodell hinausgehen: vor allem an „supersymmetrischen“ Modellen, in denen es zu jedem bekannten Teilchen ein (bisher) unbekanntes Pendant geben soll. Etwa der tschechische Theoretiker Lubos Motl: Er hält es für „extrem wahrscheinlich“, dass das Atlas-Abstract echt sei, auch passe die Masse von 115 GeV/c2„perfekt“ zur Supersymmetrie. Das bringe, jubiliert er, die „anti-supersymmetrischen bigots dieser Welt ihrem peinlichen doomsday näher“.

Nicht alle Physiker lassen sich zu solchen wilden Hoffnungen hinreißen. Die meisten reagieren ähnlich reserviert wie Sheldon Stone (Syracuse University): „Wenn es wahr sein sollte, wäre es wirklich aufregend.“

Das Higgs-Teilchen

1964 entwarf der englische Physiker Peter Higgs den „Higgs-Mechanismus“: Er erklärt, wie masselose Teilchen eine Masse bekommen können – durch Wechselwirkung mit einem (hypothetischen) Feld: dem Higgs-Feld.

1967 diente der Higgs-Mechanismus zur (formalen) Vereinigung der elektromagnetischen Kraft und der schwachen Kraft zur „elektroschwachen Kraft“: Er erklärt, wieso die Teilchen, die die schwache Kraft verkörpern, eine Masse haben – im Gegensatz zu den Fotonen der elektromagnetischen Kraft. Heute soll die Masse aller Elementarteilchen durch Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld erklärt werden. Zu jedem Feld gehört ein Teilchen: diesfalls eben das Higgs-Teilchen.

Bis heute suchen die Physiker mit ihren Teilchenbeschleunigern nach Spuren des Higgs-Teilchens.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2011)

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