Kubismus zur Tarnung

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„Razzle Dazzle&ldquo in der Psychologie. Wilde Muster und starke Kontraste können einen Gegenstand vor verfolgenden Blicken schützen. Kriegsschiffe wurden damals zur Tarnung mit auffälligen Mustern bemalt.

Wer lieber nicht gesehen werden will, sei es als potenzielle Beute von Raubtieren oder als Soldat von Feinden, der tarnt sich, im einfachsten Fall mit „high similarity“ oder „kryptisch“; dabei macht man sich in Form und/oder Farbe der Umgebung gleich. Der Nachteil liegt darin, dass man sich kaum bewegen darf, wenn man sein Tarnkleid nicht so blitzschnell an wechselnde Umgebungen anpassen kann wie Chamäleons. Deshalb setzen manche Tiere auf das gerade Gegenteil des Sich-Versteckens: „high difference“ oder „disruptive Tarnung“. Das geht mit wilden Mustern in starken Farbkontrasten, wie sie in der Natur etwa Zebras tragen – und wie sie in der Militärgeschichte im Ersten Weltkrieg auftauchten.

Picasso freute sich

Vor allem Kriegsschiffe der USA und Großbritanniens wurden damals mit auffälligen Mustern bemalt, zum Schrecken der Kapitäne, von denen einer sich in einem „futuristischen Albtraum“ wähnte. „Das haben wir erfunden“, freute sich hingegen Picasso, als er in Paris ein riesiges, in kubistischer Manier bemaltes Tuch sichtete, unter dem eine Kanone verborgen war. Aber die Kubisten waren es nicht. Erfunden haben diese Tarnung unabhängig voneinander der britische Marinemaler Norman Wilkinson und der US-Vogelkundler Abbot Thayer. Dieser hat als Erster systematisch die Tarnung an Tieren erkundet; von ihm stammt der Gegensatz „high similarity“ versus „high difference“. Wilkinson hat ein anderes Fachwort geprägt, er gab der wilden Militärtarnung ihren Namen: „Razzle Dazzle“.

Das bedeutet „Tumult“ und „Durcheinander“, und in dem der Farben und Muster eines Attackierten sollte der Blick eines Angreifers keinen Halt finden, vor allem der der Torpedoschützen in U-Booten, die mit Triangulation arbeiteten und dafür zwei feste Punkte auf dem Ziel brauchten. „Alle Formen des Schiffs werden durch Massen stark kontrastierender Farben gebrochen, sodass ein U-Boot schwer über den Kurs des angegriffenen Schiffs entscheiden kann“, erklärte Wilkinson und empfahl „schräge Linien, Kurven und Streifen“.

„Sieben Kandinskis“ auf Tarntuch

Die sollten die Grenzen des disruptiv Getarnten verschwimmen lassen, seine Gestalt auflösen, und sie sollten seine Bewegung verzerren, sowohl die Richtung als auch die Geschwindigkeit. Funktioniert das? Es hat vielleicht manchem Künstler das Leben gerettet – „sieben Kandinskis“ habe er an einem Tag auf Tarntuch gebracht, berichtete etwa Franz Marc von der Front in Frankreich –, aber ob es auch Soldaten schützte, ist unklar. Die britische Admiralität fand bei einer Analyse keinen Effekt, behielt die Tarnung aber teilweise noch im Zweiten Weltkrieg bei, aus psychologischen Gründen: Sie sollte Freund und Feind beeindrucken wie die Kriegsbemalung der Indianer.

Aber wissenschaftlich getestet wurde „Razzle Dazzle“ kaum. Eine Gruppe um den Experimentalpsychologen Nicholas Scott-Samuel (Bristol) hat das nun nachgeholt. Testpersonen sollten die Geschwindigkeit verschiedener grafischer Muster einschätzen, die sich auf einem PC-Schirm bewegten. Da gab es entweder gerade Linien oder in Zickzack und Schachbrettmuster verworfene; sie waren zudem in unterschiedlich starkem Kontrast gehalten und bewegten sich verschieden schnell. War der Kontrast schwach und die Bewegung langsam, wurde die Geschwindigkeit bei allen Mustern richtig erkannt. Wurde der Kontrast aber stark und die Bewegung rasch, irrten die Augen und Gehirne bei Zickzacklinien und Schachbrettmustern: Sie wurden um sieben Prozent zu langsam eingeschätzt. Das übersetzt sich bei einem Objekt, das in 70 Metern Entfernung mit 90 Kilometern pro Stunde vorbeirast und mit einer Granate beschossen wird, in einen Fehler von 90 Zentimetern.

Für Landrover in Libyen

„Das Geschoß würde fast einen Meter hinter dem angepeilten Ziel einschlagen, das könnte Leben retten“, schließt Scott-Samuel und meint damit: heutige Leben. Die Schiffe im Ersten Weltkrieg waren nicht rasch genug. Aber Landrover – wie sie etwa derzeit auf der Rebellenseite in Libyen unterwegs sind – könnten von „Razzle Dazzle“ profitieren (PLoS ONE, 1.6.).

Und es funktioniert wohl auch in Gegenrichtung, verwirrt nicht nur den Blick eines festen Beobachters auf ein rasch bewegtes Ziel, sondern auch den aus einem rasch bewegten Objekt auf einen festen Beobachter. Darauf hofft zumindest die österreichische Polizei: Sie hat manche Radarfallen mit „Razzle Dazzle“ verziert, auf dass Raser nicht sehen, in welche Richtung geblitzt wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2011)

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