Warum Kratzgeräusche in den Ohren schmerzen

Warum Kratzgeraeusche Ohren schmerzen
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Bestimmte Geräusche wie etwa das Kratzen einer Kreide auf der Tafel sind nervig und unangenehm. Zwei Musikwissenschaftler haben nun die Gründe dafür aufgedeckt.

Wer kennt das nicht: Eine lange Sitzung ist zu Ende, man atmet erleichtert auf – und dann: das Kratzen der Sessel am Boden. Ein kalter Schauer läuft über den Rücken. Jetzt sind alle wieder wach! Ein Geräusch, das vielleicht noch viel abstoßender ist und an das sich jeder aus der Schulzeit erinnern kann, ist das Kratzgeräusch, wenn ein Fingernagel oder eine Kreide über die Wandtafel fährt. Aber was macht diese Geräusche so unangenehm? Es liegt an der Tonhöhe und der Eigenresonanz des Gehörkanals.

Christoph Reuter, Musikwissenschaftler an der Universität Wien, und sein Kölner Kollege Michael Oehler von der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation sind dem Phänomen auf den Grund gegangen. „Auf das Thema hat uns eine Medienagentur gebracht“, erzählt Reuter. „Die haben ein Feature für eine Fernsehsendung über unangenehme Geräusche vorbereitet und uns als wissenschaftliche Berater herangezogen.“

Die Erklärungen in der Literatur waren für sie recht weit hergeholt und nicht durch genügend Versuchspersonen belegt. Eine Ursache für die akustische Qual mancher Geräusche war z.B., dass diese ähnlich klingen wie ein Warnschrei eines Makaken. Das ist nachvollziehbar, wenn man einen Makaken schreien hört, jedoch sind Vergleiche aufgrund von Klangfarbenähnlichkeiten nicht sonderlich aussagekräftig. So klingen z. B. das Flattern von Tauben und das Knattern von Maschinengewehren nahezu gleich, ohne dass ein inhaltlicher Zusammenhang bestünde. Daher machten sich Reuter und Oehler selbst auf eine stichhaltige Erklärungssuche.

Und sie wurden fündig. Die Ergebnisse: Es sind die tonalen Anteile, die uns im Ohr Schmerzen verursachen. „Das ist ganz einfach nachzuvollziehen, wenn sie beispielsweise das Rauschen eines Wasserfalls und die nervenaufreibenden Töne einer Kreissäge bei gleicher Lautstärke miteinander vergleichen“, so Reuter. Es kommt darauf an, welche Bereiche auf der Basilarmembran der Gehörschnecke besonders angesprochen werden. Beim Rauschen verteilt sich die Schwingungsenergie statistisch gleichmäßig über die gesamte Basilarmembran, während beim schneidenden Ton einer Kreissäge einzelne Bereiche stark gereizt werden, andere weniger.


Gesteigerte Hörfähigkeit. Vor allem ein hoher Energieanteil im Frequenzbereich zwischen 2000 und 4000 Hertz lässt uns Geräusche als unangenehm und nervig empfinden. Aufgrund der Eigenresonanz unseres Außenohrkanals werden Frequenzen in diesem Resonanzbereich besonders gut übertragen. Da Wandtafelkratzgeräusche von Natur aus in diesem Bereich einen hohen Energieanteil aufweisen, werden sie auch als besonders unangenehm empfunden. Unsere gesteigerte Hörfähigkeit in diesem Bereich wirkt sich jedoch in den seltensten Fällen derart nachteilig aus. Meistens dient sie zur Steigerung der Sprachverständlichkeit, da die informativen Frequenzanteile unserer Vokale und Konsonanten häufig im gleichen Bereich liegen.

In den Tests ließen die Musikwissenschaftler 104 Testpersonen die unangenehmsten Geräusche aus einer Reihe von Kratz- und Quietschgeräuschen voten. Die „Top 2“-Ekelgeräusche waren: Fingernagel, der über eine Tafel kratzt, und Kreide, die während des Schreibens auf einer Tafel abbricht.

Anschließend wurden die beiden Geräusche verändert, indem bestimmte Frequenzbereiche gefiltert oder tonale Anteile, Rauschanteile oder Tonhöhenschwankungen gezielt entfernt wurden. Die veränderten Töne spielten die Forscher den Probanden erneut vor. Eine Gruppe wusste von der Herkunft der Geräusche, der anderen Gruppe wurde gesagt, dass es sich bei den Hörbeispielen um Ausschnitte aus modernen Kompositionen handelte.


Subjektive Bewertung. Jene Testpersonen, die die Töne einer zeitgenössischen Komposition zuschrieben, empfanden die Geräusche als weniger unangenehm als die Probanden der ersten Gruppe. „Man darf also die subjektive Bewertung von Klängen, das, was eine Person mit einem Geräusch verbindet, nicht unterschätzen“, so Reuter. Was lösen die Geräusche jedoch physiologisch in uns aus? Dazu maßen die Forscher gleichzeitig mit der Geräuschpräsentation Atmung, Herzschlag, Blutdruck, Temperatur und Hautleitwert der Testpersonen. „Der Hautleitwert reagiert am schnellsten“, so Reuter. Es wäre auch nicht sehr sinnvoll, wenn bei jedem der schmerzenden Geräusche, etwa einer über das Porzellan kratzenden Gabel oder den Bremsgeräuschen eines einfahrenden Zuges, der Körper sofort mit einem veränderten Blutdruck oder Herzschlag reagieren würde. Allerdings zeigte sich, dass sich der Hautleitwert bei beiden Personengruppen gleich stark als Reaktion auf die Kratzgeräusche veränderte, egal, welchem Ursprung die Klänge zugerechnet wurden.

Eines ist jedenfalls sicher: Bald werden Schüler die nervigen Kratzgeräusche auf der Tafel nur mehr vom Hörensagen kennen, wenn die digitale Tafel das Klassenzimmer erobert haben wird.

Die Gehörschnecke besteht aus dem Schneckengang, der Vorhof- und der Paukentreppe. Dazwischen ist die Basilarmembran mit Sinneshärchen: Bei hohen Tönen wird die Membran an der Basis der Schnecke gereizt, bei tiefen Tönen die der Schneckenspitze.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2011)

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