Ein neues Menschenbild mit neuen Fragen

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Die personalisierte Medizin, die durch Fortschritte der Genetik möglich wird, eröffnet viele Chancen. Doch es entstehen neue Fragen - auf die es auch bei der ersten umfassenden Konferenz zu diesem Thema kaum Antworten gab.

Personalisierte Medizin ist keine reine Zukunftsmusik mehr. Es gibt Dinge, die gegenwärtig schon gemacht werden. Und es werden von Jahr zu Jahr mehr“, sagt Georg Stingl, Immunologe an der Medizin-Uni Wien. Höchste Zeit also, das Thema einmal umfassend zu beleuchten und zu diskutieren – was die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gemeinsam mit der Deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina Ende dieser Woche in Wien getan hat.

Stingl, Mitorganisator der Konferenz, berichtet von einem konkreten Beispiel: Bei einer schweren Form eines metastasierenden Melanoms wurde ein bestimmtes Gen identifiziert, das beim Zellwachstum eine wichtige Rolle spielt. Bei vielen Patienten trägt dieses Gen eine Mutation – und nur bei diesen Patienten wirkt ein Krebsmedikament, das zu einer deutlichen Lebensverlängerung führt. „Patienten, die diese Mutation nicht haben, zeigen keine Antwort auf dieses Medikament“, so Stingl.

An diesem Beispiel wird deutlich, was unter „personalisierter“ (oder fast gleichbedeutend: „individualisierter“) Medizin genau zu verstehen ist – und was nicht. „Es bedeutet nicht, dass man als Arzt individuell auf den Patienten zugeht – das wäre ja nichts Neues. Sondern es geht darum, die Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten in der Systembiologie gemacht wurden, auf den Patienten anzuwenden“, erläutert der Forscher. Unter „Systembiologie“ versteht man die Entschlüsselung der Bausteine des Lebens – Gene, Proteine, Lipide und andere Stoffwechselprodukte – und die Erforschung der Zusammenhänge zwischen ihnen.

Aus den bisherigen Ergebnissen wurde klar, wie stark sich verschiedene Menschen unterscheiden. Und – das ist der entscheidende Punkt: Diese individuellen Unterschiede erklären auch, warum sich Krankheiten bei verschiedenen Patienten unterschiedlich entwickeln und warum Patienten auf Medikamente unterschiedlich gut ansprechen. „Zurzeit wird die Hälfte der Medikamente umsonst gegeben, weil sie bei bestimmten Menschengruppen wirkungslos sind“, pflegt der Systembiologe Giulio Superti-Furga, Leiter des Zentrums für Molekulare Medizin (CeMM) der ÖAW, zu sagen. Nachsatz: „Die Nebenwirkungen haben sie aber trotzdem.“ Durch funktionelle Tests kann bereits für einige Krankheiten ermittelt werden, wie die Krankheit verlaufen wird und ob eine bestimmte Therapie erfolgversprechend ist.

Superti-Furga war einer der zahlreichen Experten, die bei der Konferenz ihre Beiträge zum Thema präsentiert haben. Zu Gast waren US-Koryphäen wie Jouni Uitto, Boris Bastian oder Erwin Böttinger genauso wie Spezialisten aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich. Keynote-Speaker war der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk („Die Presse“ berichtete).

Die wissenschaftlichen Fortschritte gehen rasant voran und haben dramatische Auswirkungen auf andere Bereiche, etwa Gesundheitspolitik und -ökonomie, und werfen viele neue juristische und philosophische Fragen auf. Der Eröffnungsredner Philipp Heitz (Uni Zürich) brachte hier den Begriff „ELSI“ ins Spiel: „Ethical, legal and social issues“ müssten dringend diskutiert werden. Es geht auch um das Vertrauen der Menschen in die personalisierte Medizin (die Heitz lieber „Präzisionsmedizin“ nennt): Das Vertrauen könne sinken, wenn die „genetische Privatsphäre“ nicht geschützt wird.

Die Wissenschaft erschaffe derzeit ein neues Menschenbild, lautet der Befund von Matthias Beck, Moraltheologe an der Uni Wien. „Der Siegeszug der naturwissenschaftlichen Medizin beruhte auf der Verallgemeinerbarkeit.“ In dem mehr als 200 Jahre vorherrschenden Bild, dass der Mensch eine Maschine sei, gelten z.B. Erkenntnisse über Stammzellen oder bestimmte Krebsformen für alle Menschen.


Mehr Selbstverantwortung.
Die neuen Erkenntnisse der Systembiologie zwingen aber zu einem Umdenken, zu einer Erweiterung des Menschenbildes: „Der Mensch ist nicht primär dadurch definiert, was verallgemeinerbar ist, sondern durch individuelle Unterschiede.“ Diese finden sich zum einen im ererbten Genom, zum anderen auf der Ebene der Epigenetik – also dem Muster, welche Gene aus- und eingeschaltet sind. Das wird durch verschiedenste persönliche Faktoren bestimmt: durch die Umwelt, die Biografie oder den Lebensstil des Individuums.

Diese anthropologische Erkenntnis hat weitreichende ethische Konsequenzen. „Wenn persönliche Dinge Einfluss auf das genetische Material oder auf das Immunsystem haben, dann steigt die Selbstverantwortung des Menschen“, so Beck. Daher müsse man die Menschen auch zu mehr Verantwortung erziehen. Die Einsicht hat zudem Auswirkungen auf das gesamte Gesundheitssystem: Wenn eine Erkrankung kein unabwendbares Ereignis mehr ist, gegen das man nichts machen kann, sondern wenn der Mensch Einfluss darauf hat, dann könnte man etwa fragen, ob die Allgemeinheit weiter alles bezahlen müsse.

Antworten auf solche Fragen sind noch rar. „Darüber gibt es noch keinen Konsens, die Diskussion steht erst ganz am Anfang“, so Beck. Die philosophische und moralische Reflexion hinke der naturwissenschaftlichen Entwicklung deutlich hinterher. Ähnlich ist es auch bei den rechtlichen Rahmenbedingungen für die personalisierte Medizin. In den Augen von Irmgard Griss, der ehemaligen Präsidentin des Obersten Gerichtshofes, tauchen zwei gänzlich neue Fragestellungen auf. „Die Forschung ist das erste Mal in der Situation, dass Daten vorliegen, die nicht vollständig anonymisiert werden können.“ Und man bekomme nun Informationen, die Prognosen zulassen, die auch für andere Personen zutreffen können. Griss nennt ein Beispiel: Wenn ein Arzt bemerkt, dass aufgrund einer genetischen Analyse auch für Verwandte oder Kinder ein Risiko droht, dann darf er diese Personen derzeit nicht darüber informieren (außer in dem Fall, dass der Betroffene selbst Patient bei diesem Arzt ist).

Für solche Probleme gibt es noch keine fertigen Lösungen. „Wir brauchen neue Richtlinien, aber ich denke, der Gesetzgeber ist damit überfordert“, sagt die erfahrene Richterin. Ein Weg könnten ethische Richtlinien sein, die sich die betroffenen Berufsgruppen selbst geben. Diese müssten zum einen flexibel genug sein, damit man mit ihnen arbeiten könne, aber gleichzeitig ausreichenden Schutz bieten.

Klar ist für Griss, dass zwei Grundsätze unbedingt weiterhin gelten müsse: Genetische Untersuchungen dürfen nur nach einem „informed consent“ durchgeführt werden, und jedermann muss frei bestimmen können, wem die Daten zugänglich sind. Viele andere juristischen Probleme sind hingegen nicht neu – etwa Datenschutz, ärztliche Verschwiegenheitspflicht oder Abwägung von Grundwerten und allgemeinen Interessen. Sie werden durch die personalisierte Medizin aber verschärft.

Wird die personalisierte Medizin leistbar sein? Der Immunologe Stingl macht sich da keine Illusionen. „Es wird teurer werden – am Anfang sogar viel teurer“, sagt er. Was den Wiener Ökonomen Erich Streissler zu der Bemerkung veranlasst hat, dass sich das Gesundheitswesen in einem zentralen Punkt von anderen Wirtschaftszweigen unterscheide: In der Medizin steigt die Arbeitsproduktivität nicht durch Fortschritte, sondern sie sinkt. „Das ist aber nicht eine Folge von Ineffizienz, sondern eher eine Konsequenz der höheren Qualität der medizinischen Dienstleistung pro Patient.“

Längerfristig könnte die personalisierte Medizin allerdings zu Verbilligungen führen – denn wenn Krankheiten früher erkannt und besser behandelt werden, sinken die Folgekosten.


Schwere Krankheiten. Einsatz werden die Methoden der personalisierten Medizin vorrangig bei ganz schweren Krankheiten finden, erwartet Stingl. „Bei Kopfschmerz wird man weiterhin ein gewöhnliches Schmerzmittel einnehmen.“ Man kann den Gedanken der personalisierten Medizin aber auch viel weiter spinnen – etwa, ob Rauchverbote nur mehr für jene Menschen gelten würden, die von ihrer genetischen Disposition überhaupt dazu neigen, wegen Rauchens Krebs zu entwickeln. Der Schweizer Experte Heitz antwortete auf diese Frage, die aus dem Publikum kam: „Ja, es wird möglich sein zu erkennen, welche Raucher krebsgefährdet sind und welche nicht. Aber wir werden das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden deswegen hoffentlich nicht zurücknehmen.“

„ELSI“ ist das Schlagwort für alle ethischen, juristischen und sozialen Fragen („Ethical, Legal and Social Issues“), die die personalisierte
Medizin aufwirft. Internationale Forscher haben viele Fragen und manche Antworten als E-Book herausgegeben: www.genomicslawreport.
com/wp-content/uploads/
2009/12/ELSI-eBook.pdf

Klinische Forschung
(KLIF) wurde 2011 erstmals vom FWF mit drei Millionen Euro gefördert: 15 Projekte für unabhängige Gesundheitsforschung wurden genehmigt.

Zweite Ausschreibung
Nun läuft die nächste Einreichfrist (bis 29.Februar): Wieder stehen drei Millionen Euro bereit, um patientenorientierte, klinische Forschung zu finanzieren.

Infos: www.fwf.ac.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2012)

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