Mathematik ist mehr als nur Zahlen

Die Mathematikerin Evamaria Russ beschreibt mit Worten statt mit Zahlen unendliche Dimensionen: „Doch unendlich ist nicht gleich unendlich.“
Die Mathematikerin Evamaria Russ beschreibt mit Worten statt mit Zahlen unendliche Dimensionen: „Doch unendlich ist nicht gleich unendlich.“(c) Karlheinz Fessl
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Die Kärntnerin Evamaria Russ promovierte mit Österreichs höchster akademischer Auszeichnung: sub auspiciis. Sie verließ die Forschung aus Liebe zum Landleben.

Alles ist Zahl. Die Zeit lässt sich mathematisch einteilen, wie der Raum sich geometrisch zerlegen lässt. Seit Pythagoras von Samos, dem der einleitende Satzzugeschrieben wird, setzt die Wissenschaft die Beschäftigung mit Zahlen der klarsichtigen Naturwissenschaft der Mathematik gleich. Sein nach ihm benannter, aber bereits bei den Babyloniern und Ägypten bekannter Satz über das rechtwinkelige Dreieck ist jedem Schulkind ein Begriff: a? + b? = c?. Zahlen erklären die Welt. Aber mathematische Forschung geht weiter, dringt in andere Dimensionen vor, bis hin zum Unendlichen. Dort kann die Wissenschaft nicht mehr rein rechnerisch erklärt werden.

„Es ist ein genereller Irrtum, dass Mathematik mit Rechnen und Zahlen gleichgesetzt wird“, sagt Evamaria Russ. In ihrer am Institut für Mathematik der Uni Klagenfurt abgelegten Dissertation „On the Dichotomy Spectrum in Infinite Dimensions“ finden sich daher wenige Zahlen, abgesehen von Nummerierungen und Seitenangaben. Bundespräsident Van der Bellen zeichnete die 30-Jährige im März für ihre Abschlussarbeit sowie ihre ausgezeichneten schulischen und akademischen Leistungen mit einer Promotion sub auspiciis Praesidentis und einem Ehrenring aus: der höchsten Auszeichnung für Studienerfolg in Österreich. Russ bescheiden: „Das ist mir einfach passiert. Ich habe nicht speziell darauf hingearbeitet.“

Werkzeuge, um Wetter zu berechnen

Trotz weniger Zahlen in ihrer Dissertation macht das die Einsicht in ihre Forschung nicht einfach. Ein Erklärungsversuch: Russ arbeitet im Bereich von dynamischen Systemen. Das sind mathematische Modelle, die reale oder zeitlich veränderbare Prozesse schematisch veranschaulichen. Das Wetter etwa ist ein dynamisches System. Im Modell handelt es sich zumeist um Differenzial- oder Differenzengleichungen. Diese sind oft nicht einfach zu lösen: Es braucht mathematische „Werkzeuge“. Eines davon ist das Dichotomiespektrum, die Methode von Russ.

Modelle können einfach sein. Verändern sich zeitliche Parameter, wird die Berechnung schwierig. Gerade beim Wetter macht es einen Unterschied, ob es Sommer oder Winter ist. Bei derlei Änderungen spricht der Mathematiker von nicht autonomen dynamischen Systemen. Dichotomiespektren können hier qualitative Aussagen über mögliche Lösungen finden.

Russ arbeitete an Spektren in unendlichen Dimensionen. Ihr ging es darum, wie diese aussehen und welche Struktur sie haben. Erst wenn man das weiß, können sie angewandt werden. Grundsätzlich sind Dichotomiespektren Intervalle auf einer realen Achse. In einem zweidimensionalen Raum gibt es höchstens zwei Intervalle. Im unendlichen Raum können es unendlich viele sein. Russ sagt: „Unendlich ist aber nicht gleich unendlich.“ Es gibt abzählbar viele Intervalle im unendlichen Raum: Rationale Zahlen können auf jeweils einer natürlichen Zahl abgebildet, also abgezählt, werden. Irrationale Zahlen, etwa Wurzelzahlen oder Pi, können das nicht. In unendlich dimensionalen Räumen kann das Dichotomiespektrum folglich aus abzählbar vielen und überabzählbar vielen Intervallen bestehen.

Aus Theorie kann später Praxis werden

Nicht alles an Russ' Forschung ist anwendbar, aber „man betreibt ja nicht nur Mathematik für die Anwendbarkeit“, sagt sie. Gewisse Fragestellungen seien einfach in der Theorie interessant. Zudem können theoretische Lösungen oftmals viele Jahre später praktisch umgesetzt werden, so geschehen bei Verschlüsselungstechniken.

Russ ist nun nicht mehr in der Forschung. Sie arbeitet bei Argo Forst- und Energietechnik in St. Paul im Lavanttal. Die Firma erzeugt Biomasseanlagen. Um Prozesse bei der Verbrennung besser verstehen zu können, benötigt es Modelle, die Russ untersucht. Die Theoretikerin ist in der Praxis angekommen. Zwar fühlt sich Russ in der akademischen Welt wohl, jedoch entschied sie sich bewusst für ein Leben auf dem Land. In Lavamünd genießt sie die Natur und nutzt die Berge vor der Haustür für ihre Hobbys. „In der Stadt muss ich mir für jedes Wochenende Freizeitaktivitäten überlegen. Hier fahre ich einfach Ski, gehe wandern oder mountainbiken“, sagt sie.

ZUR PERSON

Evamaria Russ, geboren 1986, absolvierte das Studium der Technischen Mathematik an der Uni Klagenfurt, an der sie auch promovierte. Sie arbeitete am Institut für Mathematik und verbrachte Forschungsaufenthalte an der Technischen Universitäten Dresden und am Imperial College London. Derzeit arbeitet Evamaria Russ im Unternehmen Agro Forst- und Energietechnik in St. Paul im Lavanttal. Sie lebt in Lavamünd.

Alle Beiträge unter:diepresse.com/jungeforschung

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2017)

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