Nicht mehr mit den Fingern rechnen

Michael Gaidoschik analysierte Schulbücher, befragte Kinder und Lehrer und fand, dass in puncto Verständnis für Mathematik in Österreich im ersten Schuljahr viel falsch läuft.

„Viele sind über die Pisa-Ergebnisse der 15-jährigen Schüler in Österreich entsetzt. Man muss aber nur schauen, was in der ersten Klasse passiert“, sagt Michael Gaidoschik. Er befragte in seiner Dissertation (Pädagogik, Uni Wien, Betreuung: Günter Hanisch) Kinder – zu Beginn, Mitte und am Ende ihres ersten Schuljahres – und überprüfte ihr mathematisches Verständnis. Die Ergebnisse sind soeben im Peter-Lang-Verlag erschienen („Wie Kinder rechnen lernen – oder auch nicht“). Aus fachdidaktischer Sicht ist es im ersten Schuljahr sehr wichtig, dass die Kinder vom zählenden Rechnen (mit dem Einsatz der Finger) weggehen und Plus- und Minusaufgaben automatisieren (mit Verständnis auswendig lernen) oder aus bereits automatisierten Aufgaben erschließen. „So sehr ich beeindruckt war, wie viele Kinder schon zu Beginn der Schule anspruchsvolle mathematische Ableitungen durchführen, so sehr hat mich erschreckt, wie hoch der Prozentsatz derer war, die nach dem ersten Schuljahr immer noch zählend rechnen“, so Gaidoschik.

Einen wesentlichen Grund für dieses Manko fand er in der Art des Unterrichts: „Ich habe alle fünf Schulbücher, die im Unterricht der 139 befragten Kinder verwendet wurden, einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen: Es finden sich klare Verstöße gegen die Empfehlungen, die die aktuelle Fachdidaktik zur Gestaltung des mathematischen Anfangsunterrichts ausspricht.“ Der Zahlenraum bis zehn sollte für die Schüler am Ende des ersten Schuljahrs automatisiert sein. „Das Problem wird verschärft durch die Lehrerausbildung, die zu wenig fachdidaktisches Wissen vermittelt“, sagt Gaidoschik. Er befragte die Lehrkräfte der von ihm interviewten Kinder: „Man orientiert sich an dem, was die Lehrbücher vorgeben.“

So kann vielen Erstklasslern leider kein glücklicher Einstieg in die Arithmetik gelingen: „Wie ein Kind am Ende der Pflichtschulzeit in Mathematik abschneidet, entscheidet sich großteils im ersten Schuljahr, teilweise schon früher“, sagt der Forscher, der selbst seit 15 Jahren Kinder mit Rechenschwächen betreut (www.rechenschwaeche.at). So gesehen muss sich niemand wundern, warum 20 Prozent der heimischen Jugendlichen laut Pisa Gefahr laufen, „am modernen beruflichen und gesellschaftlichen Leben“ nicht voll teilnehmen zu können, weil ihnen „grundlegende mathematische Kompetenzen“ fehlen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2010)

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