Alterskreativität

Am Beispiel J.S. Bachs lässt sich zeigen, wie ein reicher Erfahrungsschatz und die tiefere Durchdringung eines Gegenstandes eine Alterskreativität sprudeln lässt.

Vielen Musikinteressierten ist das Werk Johann Sebastian Bachs ein Heiliger Gral. Faszinierend ist nicht nur die Fülle an Werken, sondern v.a. deren Qualität – einerseits die intellektuelle Leistung, viele Fäden in der Hand zu halten, ohne den Zusammenhang zu verlieren, andererseits die Tiefe, mit der Abgründe der menschlichen und Weiten der transzendentalen Sphäre ausgelotet werden.

Ein besonderes Kapitel in Bachs Werk sind die ganz späten Kompositionen: die unvollendete „Kunst der Fuge“ – die Komposition bricht just dort ab, wo Bach seinen Namen als Thema mit den Noten B, A, C, H einführt – und der Choral „Vor Deinen Thron tret ich hiermit“. Um beide ranken sich Legenden, die Analysen dazu füllen mehrere Laufmeter Bücher. Der deutsche Gerontologe Andreas Kruse (Uni Heidelberg) fügte dem nun ein paar weitere Zentimeter hinzu: Er nimmt J.S.Bach als Beispiel für sein Arbeitsgebiet, die Alternsforschung, die sich mit körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklungsprozessen beschäftigt.

Das Beispiel scheint wirklich gut gewählt, denn bei allen fünf Fragen, die Kruse diskutiert, liefert der Altmeister des Spätbarocks interessante Einsichten. Verändert sich die Persönlichkeit im Alternsprozess? Lassen sich typische Veränderungen in der Emotionalität beobachten? Finden sich im Altern Wandlungen der Lebensthematik? Welche Entwicklungsanforderungen sind in dieser Phase des Lebenslaufs erkennbar? Und: Gelingt es älteren Menschen, trotz der eintretenden Einbußen und Verluste eine tragfähige Lebensperspektive aufrechtzuerhalten? Die Antworten machen die 360 Seiten von „Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach. Psychologische Einblicke“ (25,70 €, Springer Spektrum) zu einer dichten und vielstimmigen Analyse des Alterns – inklusive einer psychologischen Deutung von Bachs Biografie und Werk.

Im Leben des Komponisten lässt sich etwa die Einsicht der Alternsforschung nachweisen, dass die „erfahrungsgebundene Intelligenz“ bis ins hohe Alter erhalten bleiben kann, während die „flüssige Intelligenz“ zurückgeht. Im Alter bestehe die Möglichkeit, auf ein hoch entwickeltes Wissenssystem zurückzugreifen und dieses noch zu verfeinern, um einen Gegenstand tiefer zu durchdringen. Aus diesen Ingredienzien kann offenbar Alterskreativität sprudeln. Dabei spricht Kruse einen spannenden Gedanken an: Es könnte gerade die Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit sein, die neue Potenziale der Kreativität eröffne.

Jedenfalls betont er: In Bezug auf den Umgang mit Grenzsituationen des Lebens könnten junge Menschen von Älteren etwas lernen.

martin.kugler@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2014)

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