Die Burg als moderne Rekonstruktion des Mittelalters

Die Burg als moderne Rekonstruktion des Mittelalters? Wie unser Bild dieses angeblich „dunklen Zeitalters“ geprägt wurde.

Johann Nepomuk Graf Wilczek war ein interessanter Mensch. Er war als Eigentümer von Steinkohlegruben in Schlesien einer der reichsten Aristokraten der Habsburgermonarchie, er finanzierte die Arktisexpedition von Julius Payer und Carl Weyprecht, war ein Freund von Kronprinz Rudolf, Mitgründer der Wiener Rettung und durch seine Liebesaffäre mit Katharina Schratt ein Nebenbuhler von Kaiser Franz Joseph. Seine größte Leidenschaft galt aber dem Burgenbau: Wilczeks bis heute weithin sichtbares Opus magnum ist die Burg Kreuzenstein (zwischen Korneuburg und Stockerau).

Auf der Suche nach einem geeigneten Standort für eine Familiengruft wurde Wilczek auf die Ruinen der (im Familienbesitz stehenden) mittelalterlichen Burg Kreuzenstein aufmerksam, die nach der Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg quasi als Steinbruch diente. Da keine alte Gruft aufgespürt werden konnte, ließ er kurzerhand eine neue in den Fels sprengen – und mit der Zeit reifte in ihm der Gedanke, gleich weiterzubauen: Zwischen 1874 und 1906 ließ er schließlich eine neue Burg errichten: Kreuzenstein.

Diese hat nur wenig mit dem originalen Bauwerk zu tun, sondern ist Stein gewordenes Idealbild einer mittelalterlichen Burg. Aus ganz Europa trug er wertvolle Bauteile (Spolien) sowie Einrichtungsgegenstände aus der Zeit zusammen, die zum Teil mit mittelalterlichen Bauverfahren, zum Teil aber auch mithilfe moderner Stahlkonstruktionen zusammengefügt wurden.

Diese Geschichte hat sich Andreas Nierhaus, Historiker und Kurator der Architektursammlung des Wien-Museums, genau angesehen: In seinem eben erschienenen Buch mit dem schlichten Titel „Kreuzenstein“ (256 Seiten, 35 Euro, Böhlau) beschreibt er, so der Untertitel, „die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne“. Kreuzenstein kann demnach als Schluss- und Gipfelpunkt der Mode des 19. Jahrhunderts gelesen werden, das Mittelalter – ausgehend von einer romantischen Verklärung – wiederzubeleben und zu rekonstruieren. Unser Bild, das wir heute vom Mittelalter haben, ist in vielerlei Hinsicht von solchen Nachschöpfungen geprägt.

Im Fall von Kreuzenstein gilt das umso mehr, als diese Burg schon damals als öffentlich zugänglicher Erlebnispark fungierte – und heute ein international gefragter Drehort für Mittelalterfilme ist. Und was man so groß, bunt und „lebensecht“ auf der Kinoleinwand sieht, das muss ja wohl auch wahr sein...


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

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diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.10.2014)

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