Rasterförmige Städte und die Bibel

Was unsere rasterförmigen Städte mit Erzählungen aus der Bibel zu tun haben: Kunsthistoriker Rainer Metzger hat es im Buch "Die Stadt" zusammengetragen.

Wer jemals in Jerusalem vom Ölberg auf die Altstadt hinuntergeschaut hat, kann sich die Szene gut vorstellen: Jesus ritt auf einem Esel den steilen Berg hinab – zum Passahfest, dessen weiteren Verlauf alle Christen derzeit feiern. Als er Jerusalem vor sich liegen sah, begann er zu weinen, weil die Stadt nicht erkennen wollte, was ihr Frieden gebracht hätte (Lk 19, 41f.). Jesus blickte dabei auf ein wildes Gassengewirr, das von einer unregelmäßigen Mauer umgeben war.

Ein schroffer Gegensatz dazu ist 200 Seiten später in der Bibel zu lesen: Auch in der Offenbarung blickte der Icherzähler vom Berg auf die Stadt hinunter, er sah aber das „neue Jerusalem von Gott her aus dem Himmel herabkommen“. Diese Stadt war „viereckig angelegt und ebenso lang wie breit“ (Offb. 21, 15). Wörtlich darf man die folgenden Beschreibung des himmlischen Jerusalem nicht nehmen (etwa Mauern aus Edelsteinen, Straßen aus Gold oder eine Seitenlänge von mehr als 2200 Kilometern) – es handelt sich um Symbole für die Allgegenwart Gottes. „Die heilige Stadt als Fluchtpunkt diesseitiger wie jenseitiger Hoffnungen“, merkt der deutsche Kunsthistoriker Rainer Metzger in seinem eben erschienen Buch „Die Stadt. Vom antiken Athen bis zu den Megacities“ (272 Seiten, Brandstätter, 24,90 Euro) dazu an.

Diese Idee sollte Bestand haben. Rasterartig angelegte Städte waren natürlich keine Erfindung der Autoren der Bibel – auch Babylon oder römische Städte waren so angelegt. Doch sie bekamen durch die biblischen Schilderungen eine religiöse Bedeutung. Symmetrie als göttliches Prinzip: Das wurde ab der Renaissance ein wichtiger Gedanke bei rasterförmigen Stadtplanungen (die freilich auch ein hygienischeres Leben ermöglichten als die verwinkelten mittelalterlichen Städte). Beispiele dafür gibt es sonder Zahl – etwa Pläne von Leonardo da Vinci oder von Albrecht Dürer. Auch wenn Metzger in seinem Buch mutmaßt, dass Dürer bei seinem Idealentwurf Anleihe bei Berichten über die mexikanische Stadt Tenochtitlan nahm: 100 Jahre später wurde Dürers Plan beim Bau des schwäbischen Orts Freudenstadt umgesetzt – als eine protestantische Mustersiedlung. Diese wiederum inspirierte Johann Valentin Andreae zu seiner Utopie eines „Christianopolis“.

Dass Städte bis heute rasterförmig angelegt werden, ist also zu einem guten Teil auf eine christliche Tradition zurückzuführen. Auch wenn diese mittlerweile völlig säkularisiert wurde.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

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diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2015)

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