Wien um 1900

Wien um 1900 war eine Zuwanderungsgesellschaft voller Höchstleistungen und Probleme. Neue Forschungen österreichischer Historiker machen Parallelen zur Gegenwart deutlich.

Im Jahr 1900 war Wien die viertgrößte Stadt Europas. Mit rund 1,7 Mio. Einwohnern – und kurz vor dem Ersten Weltkrieg sogar zwei Mio. – waren nur London, Paris und Berlin größer. Die Anziehungskraft Wiens für Zuwanderer war schon seit Jahrzehnten immens, die Stadt bot für viele Perspektiven. Wie im eben erschienenen Sammelband „Migration und Innovation um 1900“ (Hg. Elisabeth Röhrlich, 527 S., 50 Euro, Böhlau) detailliert nachzulesen ist, waren nur 46 Prozent der Bevölkerung auch in Wien zur Welt gekommen. Fast 25 Prozent stammten aus Böhmen und Mähren, knapp neun Prozent waren Juden. Wien war damals die größte tschechische und die drittgrößte jüdische Stadt Zentraleuropas, betont Moritz Csáky.

Diese Diversität gilt als ein Schlüssel dafür, dass Wien zur Kulturmetropole wurde. Wie Andreas Resch und Christian Glanz ausführen, waren nicht nur Gustav Maler, Hugo Wolf, Arnold Rosé, Alfred Roller oder Eduard Hanslick keine geborenen Wiener, sondern auch die meisten Operettenkomponisten – und sogar der Autor des „Fiakerlieds“, Gustav Pick. Am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde stammte gerade noch ein Viertel der Studenten aus Wien und Niederösterreich.

Dass Zuwanderung und Diversität auch Probleme verursachten, ist ebenfalls bekannt. Wie Michael John mithilfe von Segregationsindizes beweisen konnte, blieben v. a. die jüdischen, aber auch die tschechischen Zuwanderer eher unter sich – auch zwischen den Minoritäten gab es kaum Kontakte. Für Teile der Mehrheitsbevölkerung waren beide Gruppen ein Feindbild: In Wiener Gaststätten seien Tafeln angebracht worden, die „Tschechen, Juden und Hunden“ den Eintritt untersagten, so John.

Parallelen zur Gegenwart sind nicht zu übersehen: Auch derzeit geht Wien der Zwei-Millionen-Einwohner-Marke entgegen. Der Zuwachs kommt wie damals aus der Immigration. Und ähnlich wie vor gut 100 Jahren gibt es eine „abgestufte Abwehrhaltung“ gegen Zuwanderer, wie Andreas Weigl meint. „Vereinfacht formuliert, übernehmen die Rolle der deutschsprachigen Böhmen, Mährer und Schlesier nunmehr die in Wien lebenden EU-Bürger und -Bürgerinnen, die der Tschechen um 1900 südosteuropäische Migranten und Migrantinnen und die der galizischen Juden vor allem die türkische und türkischstämmige Minorität“, schreibt er.

Geschichte wiederholt sich nicht – aber aus den Fehlentwicklungen, die damals in die Katastrophen der beiden Weltkriege und des Holocausts führten, kann, soll und muss man lernen!

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

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diepresse.com/wortderwoche

(Print-Ausgabe, 12.06.2016)

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