Wort der Woche

Umweltmigration

Immer mehr Menschen sind von klimatischen Extremereignissen bedroht. Aber zur Umweltmigration gibt es bis heute keine seriösen Daten und Prognosen.

Laut dem „Atlas of the Human Planet 2017“, den die EU-Kommission diesen Mittwoch veröffentlicht hat, sind rund eine Milliarde Menschen von Überflutungen und 640 Mio. Menschen von Wirbelstürmen bedroht. Diese Zahlen haben sich seit den 1970er-Jahren verdoppelt – einerseits, weil heute viel mehr Menschen in bedrohten Regionen (etwa tropischen Flussdeltas) leben, andererseits, weil Naturereignisse durch den Klimawandel häufiger und schwerer werden.

Wenn solche Katastrophen eintreten, sind viele Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Laut dem Internal Displacement Monitoring Center (IDMC) flohen im Vorjahr 24,2 Mio. Menschen vor extremen Wetterereignissen – das sind dreimal so viele, wie vor Konflikten und Gewalt fliehen mussten. Langfristige Bedrohungen wie Trockenheit wurden dabei nicht mitgezählt, erfasst wurden nur jene Menschen, die im eigenen Land Zuflucht fanden. Bei grenzüberschreitenden Flüchtlingsströmen (2016 laut UNO 21,3 Mio. Menschen) lassen sich die Fluchtursachen nicht klar auseinanderhalten – da spielen neben ökologischen auch politische, militärische oder wirtschaftliche Gründe eine bestimmende Rolle.

Der Begriff „Umweltflüchtling“ ist sehr vielschichtig, es gibt keine allgemein anerkannte Definition. Das hindert manche Menschen aber nicht, trotzdem exakt klingende Prognosen in die Welt zu setzen. Die Geschichte hinter solchen Zahlen wurde im kürzlich erschienenen „Atlas der Umweltmigration“ (169 Seiten, 22,70 Euro, Oekom) dokumentiert. Demnach versuchte der Oxforder Umweltforscher Norman Myers 1993 eine vorsichtige Abschätzung, wie viele Menschen bis 2050 vom Klimawandel akut bedroht sein könnten – er kam auf 200 Mio. Umweltflüchtlinge. Seine Methode wurde in Fachkreisen kritisiert, dennoch wurde die Zahl von der Politik ausgiebig zitiert. Ohne dass es neue Studien gegeben hätte, überboten einander in der Folge NGOs mit immer höheren Zahlen. Der bisher höchste Wert von 300 Mio. Umweltflüchtlingen kam 2007 von Christian Aid; als Quelle wurde ein Interview mit Myers angegeben.

Fazit: Alle derzeit kursierenden Prognosen zur Umweltmigration sind eher als fantasievolle Schätzungen einzustufen denn als wissenschaftlich fundierte Fakten. Hier werden unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaftlichkeit Politik und Stimmungsmache betrieben. Es wäre höchste Zeit für seriöse Daten – denn Umweltmigration ist ein reales Problem.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2017)

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