Physik-Nobelpreis 2010: Der flache Kohlenstoff

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Zwei Forscher, die aus Russland stammen und in England arbeiten, werden für die Entdeckung des Graphen geehrt. Geim und Novoselov haben diese Substanz erzeugt, isoliert, identifiziert und charakterisiert

Manchmal geht der Chemie-Nobelpreis an Physiker, die mit Chemie nie viel zu tun haben wollten. (Der gebürtige Wiener Walter Kohn etwa wunderte sich 1998 laut über das Fach, in dem er prämiert wurde.) Heuer wird umgekehrt der Physik-Nobelpreis für ein Thema vergeben, das eindeutig ins Reich der Chemie gehört: Graphen (betont auf dem „e“) ist eine Modifikation des Kohlenstoffs. Andre K.Geim und Konstantin S.Novoselov, beide an der University of Manchester (und zugegebenermaßen Physiker), haben diese Substanz, wie es in der Aussendung der schwedischen Akademie heißt, erzeugt, isoliert, identifiziert und charakterisiert.

Bis in die Achtzigerjahre kannte man Kohlenstoff – das bindungsfreudige Element, auf dessen Verbindungen mit Wasserstoff, Sauerstoff und anderen Elementen das Leben aufbaut – nur in zwei Modifikationen: Diamant und Graphit. Im Diamanten sitzt jedes Kohlenstoffatom (C) in der Mitte eines Tetraeders, an dessen Ecken vier andere C-Atome sitzen, mit denen es durch eine feste Atombindung („σ-Bindung“) verbunden ist. Im Graphit dagegen ist jedes C-Atom nur mit drei anderen C-Atomen, die in derselben Ebene sitzen, fest verbunden. Zwischen diesen Ebenen herrschen schwächere Bindungen, die der Chemiker als π-Bindungen bezeichnet.

Das ist der Grund dafür, dass Diamant ein Musterbeispiel für Härte abgibt und Graphit dagegen eher weich ist, den Strom gut leitet und sich als Material für „Bleistifte“ eignet. Wenn man mit solchen schreibt, rutscht sozusagen Schicht um Schicht aufs Papier.

Kann eine einzelne Ebene aus „graphitartig“ verbundenen C-Atomen stabil sein? Nein, sagten die meisten Theoretiker. Umso überraschender kam es, als Novoselov und Geim 2004 in Science (306, S.666) berichteten, dass es ihnen gelungen sei, eine solche Schicht zu isolieren. Sie verwendeten handelsübliches Klebeband („Scotch“), um die C-Schichten auseinanderzureißen! „Electric Field Effect in Atomically Thin Carbon Films“ war der Titel der Publikation, die Filme seien „of remarkably high quality“, hieß es darin. Drei Jahre später konnten die beiden bereits einen stolzen Übersichtsartikel über „The Rise of Graphene“ verfassen: Diese Form des Kohlenstoffs sei ein „rapidly rising star on the horizon of materials science and condensed-matter physics“, schrieben sie: Sie repräsentiere eine ganz neue Klasse von Materialien.

Tatsächlich: Eine einzelne Schicht von Atomen, also ein zweidimensionaler Kristall, das ist für Theoretiker und Praktiker faszinierend. Die Theoretiker finden es z.B. spannend, welche Zustände jene Elektronen einnehmen, die quasi „übrig bleiben“, weil die π-Bindungen ja wegfallen. Auch gehorchen bestimmte Anregungszustände im Graphen den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie Elektronen mit Geschwindigkeiten, die so hoch sind, dass man die spezielle Relativitätstheorie berücksichtigen muss.

Kandidat für die Elektronik

Die ganz besondere Elektronenstruktur bringt jedenfalls mit sich, dass Graphen 1) sehr fest und steif ist, 2) Wärme sehr gut leitet, 3) nach Anlegen eines elektrischen Feldes den Strom sehr gut leitet (besser als Kupfer!) und 4) so gut wie durchsichtig ist.

Genau das interessiert die Praktiker: Sie denken etwa an Beschichtungen für Bildschirme oder an Bauelemente für Computer. So würde das archetypisch „organische“ Element Kohlenstoff seinen „anorganischen“ Bruder Silizium (beide haben vier Außenelektronen) in der Elektronik ablösen.

Wenn man Graphen-Schichten zu Zylindern rollt oder gar zu Kugeln krümmt (wobei natürlich jeweils einige Bindungen „verbogen“ werden), entstehen übrigens weitere spannende C-Modifikationen: Nanoröhrchen bzw. Fullerene. Für deren Entdeckung wurde 1996 der Nobelpreis vergeben. Und zwar der aus Chemie.

Die neuen Laureaten

Andre Geim, geboren 1958 in Sotschi, ist heute niederländischer Staatsbürger. Er hat 2000 den Ig-Nobelpreis (für skurrile Forschung) bekommen: für einen Frosch, den er in einem Magnetfeld zum Schweben brachte.

Konstantin Novoselov, geboren 1974 in Nizhny Tagil (Russland), ist britischer und russischer Staatsbürger. [EPA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2010)

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