Der Hund und andere Menschen

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Der Mensch: noch Tier? Das Tier: schon Mensch? Über Mensch und Tier, Menschentier und Tiermenschen: eine Verschränkung.

Hereinspaziert in die Menagerie, / Ihr stolzen Herren, Ihr lebenslustigen Frauen, / Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen / Die unbeseelte Kreatur zu schauen, / Gebändigt durch das menschliche Genie / Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier, / Das – meine Damen! – sehen Sie nur bei mir.“ Alban Bergs berühmte und umstrittene Zwölftonoper „Lulu“ beginnt mit dem Prolog eines Tierbändigers, der sein Publikum mit einer außerordentlichen Attraktion locken will: dem wahren Tier. Dieses allerdings, inmitten von Tiger, Bären und Affen, ist – das Weib: „Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, / Zu locken, zu verführen, zu vergiften – / und zu morden – ohne dass es einer spürt.“ Was ist das Tier doch schon für den Menschen alles gewesen: Spiegelbild und Gegenbild, Figur der Sehnsucht und des Grauens, Ausdruck von Angst und Herrschsucht, Beute und Bestie, geheimnisvolle Verlockung und Gefahr, und immer wieder: Natur, Natur, Natur – in all ihrer Wildheit, Triebhaftigkeit, Fremdheit und Schönheit und im Wissen, dass diese Natur das andere des Menschen und doch er selbst sein könnte.

Die Verschränkung von Mensch und Tier hat eine lange, wechselvolle, vielfältige und zutiefst widerspruchsvolle Geschichte, und ob Tiere Menschen oder Menschen Tiere sind, ist dabei alles andere als klar gewesen. Seit sich der Mensch selbst dem Tierreich entronnen wähnt, gestaltet er sein Verhältnis zum Tier in höchst unterschiedlicher Art und Weise. Das Tier bleibt, auch im Zeitalter der technischen Naturbeherrschung, als Raubtier das Bedrohliche, der Feind des Menschen, der nicht gezähmt, nicht einmal richtig gebändigt werden kann, der, zeigt er sich in Menschennähe, Angst und Schrecken verbreitet, und deshalb gejagt, besiegt, getötet, ausgerottet werden muss. Das Tier, als gezähmtes, dem Menschen anverwandeltes Wesen, ist aber auch dessen ständiger Begleiter geworden, als Haustier ein Mitbewohner, ein Freund mitunter, aber auch Objekt eines zweifelhaften Vergnügens, Ausdruck und Projektionsfläche von Sehnsüchten und Sentimentalitäten, fast alle Kosenamen, die sich Menschen zuflüstern, sind die Namen von Tieren. Das Tier war, seit der Mensch sich aufmachte, es planmäßig zu kontrollieren und zu züchten, aber auch das erste Vehikel seiner Mobilität, durch Jahrtausende hindurch formte das Pferd nicht nur die Bewegungen und die Kampfkraft des Menschen, der Reiter, der nur als eine Symbiose von Mensch und Tier zu denken ist, wurde zum Träger von Lebensweisen und Kulturen, und erst die Erfindung der Motoren degradierte im 20. Jahrhundert dieses durch Jahrtausende hindurch bewunderte und besungene, aber auch gequälte und geschundene Tier zu einem Freizeitvergnügen für junge Mädchen.

Das Tier war jedoch immer auch Nahrung für den Menschen, die nomadisierenden Jägerhorden der Frühzeit durchstreiften auf der Suche nach tierischer Beute die Wälder und Savannen, und die Kunst der Viehzucht gab dem Menschen die Möglichkeit, Rinder, Schweine, Schafe und Hühner in einer mannigfachen Art zu nutzen, für Nahrung und Kleidung vor allem, und ihn dadurch von der unberechenbaren, wilden Natur tendenziell unabhängig zu machen. Die Urform des Reichtums, die heute nur noch als abstrakter Geldwert erscheint, war die sich vermehrende Rinderherde. Das Tier war aber immer auch Sinnbild dessen, was der Mensch nicht war und vielleicht doch sein wollte. Wer hat den erst im 20. Jahrhundert realisierten, jahrtausendealten Traum vom Fliegen dem Menschen eingepflanzt, wenn nicht der Anblick der Vögel? Sind nicht alle Fabeln gleichermaßen Ausdrucke einer genauen Kenntnis tierischer Verhaltensweisen und menschlicher Tugenden und Laster, die in ihrer tierischen Gestalt deutlicher zutage treten können? Und sind nicht die Lebensformen mancher Tiere, ob nun richtig oder falsch gedeutet, dem Menschen wie ein Schlüssel zu seinen eigenen Verhaltensweisen erschienen – vom einsamen Wolf über die emsigen Ameisen bis zum Staat der Bienen? Und war und ist das Tier nicht auch Projektionsfläche jener Imaginationen von Natur, die sich der Mensch als Sehnsuchtsort immer wieder entwirft? Keine Idylle ohne Tiere, kein Naturschutz ohne den Anspruch, in der unbeschreiblichen Vielzahl der Arten auch einen ästhetischen Wert zu sehen. Dann aber ist da auch noch das Tier als peripheres Nebenbei, das existiert, nur hin und wieder bemerkt, ohne wirklichen Bezugspunkt zum Leben der Menschen, aber mitunter höchst lästig und störend: Fliegen, Mücken, Wespen, Insekten. Und in all dem der Mensch: selbst auch ein Tier oder doch jenes „Genie“, das das Tier und mit ihm paradigmatisch die Natur in und außer ihm bändigt und beherrscht?

In einem bemerkenswerten Vortrag erinnerte sich der Philosoph Kurt Flasch einmal, schon als Kind über folgende Erfahrung ins Grübeln gekommen zu sein: Im Gymnasium nämlich stammte er überwiegend vom Affen ab, in der Kirche ging seine Seele direkt aus der Hand des Schöpfers hervor. Das Überraschende daran – Zweiteres hat dem späteren Meisterdenker besser gefallen: „Ich wollte lieber ein Ebenbild der Gottheit sein als Abkömmling der Tierwelt.“ Diese Erinnerung markiert tatsächlich eine der entscheidenden Fragestellung im Verhältnis von Tier und Mensch. Sie skizziert, im Gewand einer kleinen Kindheitsgeschichte, die alte Debatte, wie fern oder wie nah der Mensch dem Tier steht, ob sich der Mensch als etwas ganz anderes gegenüber dem gesamten Tierreich positionieren kann oder ob er, Produkt der Evolution, „nur“ ein Tier unter Tieren ist.

Die Vorliebe des jungen Kurt Flasch für die Idee, weniger Tier denn Ebenbild der Gottheit zu sein, mag uns heute fremd anmuten. Nur noch Kreationisten würden diese Position ernsthaft vertreten, ansonsten wird uns immer klarer, wie nah wir dem Tier sind oder, anders formuliert, wie nah das Tier uns ist. Die früher vermeintlich so klare Grenze zwischen Mensch und Tier ist immer brüchiger und durchlässiger geworden, die Ergebnisse der Wissenschaften, die sich mit dieser Grenze beschäftigen, sorgen für Überraschungen. Primatenforscher, Ethologen, Kognitionswissenschaftler und Biologen erkennen bei unterschiedlichen Tieren, bei Menschenaffen, aber auch bei Vögeln, Ratten oder Delfinen immer mehr Fähigkeiten, die früher ausschließlich dem Menschen zugeschrieben worden sind: komplexe kognitive Leistungen, Werkzeuggebrauch, Einfühlungsvermögen, die Herausbildung von Traditionen, kulturelle Praktiken, außerordentliche Kommunikationsformen. Die Nähe zum Tier erfüllt uns schon lange nicht mehr mit jenem Unbehagen, das der junge Kurt Flasch verspürte, und der Wunsch, kein Tier zu sein, gilt mitunter als höchst anstößig. Wer diesen Wunsch äußert, gilt mittlerweile als Speziesist, als Vertreter eines Rassismus der Arten. Aber, so könnte man mit Hegel fragen: Ist ein Tier, das weiß, dass es ein Tier ist, überhaupt noch ein Tier?

Die Kindheitserinnerung des Philosophen hält deshalb noch immer einen Stachel für uns bereit. Denn aus der vermeintlich dem Menschen durch Darwin zugefügten Kränkung, nicht die Krone der Schöpfung, nicht das Ebenbild der Gottheit zu sein, wurde längst ein Triumphgefühl: Auch wir sind Tiere, nichts als Tiere! Angesichts dieser Selbstdeutung des Menschen ließe sich auch einmal fragen: woher eigentlich diese offenkundige und publikumswirksame Freude an der Selbstdemütigung? Nur Tier zu sein, nur genetisches Programm zu sein, nur eine biologische Maschine zu sein, darauf programmiert, die Überlebenschancen der Gattung, Gruppe oder Gene – je nach wissenschaftlicher Mode – zu optimieren: Ist es tatsächlich der Wille zur Wahrheit, der diese Deutungen vorantreibt, oder die Sehnsucht, den Ballast, der mit dem Begriff des Menschen jahrtausendelang verbunden war, endlich abzuwerfen? Geist, Denken, Freiheit, Verantwortung, Moral, Bildung, Kultur, Würde: Tiere sind davon unberührt.

Allerdings, dass der Mensch ein Tier ist, ist eine uralte Einsicht. Für die antike Philosophie etwa war dies selbstverständlich, wonach man suchte, war nur die spezifische Differenz, die dieses Menschentier von anderen Tieren schied. Alle klassischen Definitionen des Menschen etwa als animal rationale oder als zoon politikon, als sprechendes, denkendes, religiöses oder produzierendes Tier wissen um die Tierheit des Menschen und möchten doch etwas fassen, das den Menschen mehr oder weniger eindeutig von allen anderen Tieren trennt.Was die moderne Wissenschaft diesen klassischen Versuchen gegenüber radikalisierte, war der Zweifel an der Möglichkeit, solche Bestimmungen tatsächlich als ausschließliche Spezifika des Menschen behaupten zu können. Sprache, Bewusstsein, Werkzeuggebrauch, komplexes soziales Verhalten – all das kann man in unterschiedlichen Ausprägungsformen auch bei verschiedenen Tierarten beobachten. Der Unterschied, so scheint ist, ist höchstens graduell, nicht mehr prinzipiell.

Was bedeutet dies aber für das Selbstverständnis des Menschen und sein Verhältnis zum Tier? Wie nah oder fern stehen wir diesem tatsächlich? Die Geschichte der Philosophie, sofern sie eine Geschichte der Selbstdeutungen des Menschen war, ist immer auch eine Geschichte des Nachdenkens über das Tier gewesen.Dieses war und ist die Folie, vor der der Mensch sich und seine Natur in den Blick bekommen will, das Verhältnis zum Tier entscheidet darüber, welche Stellung der Mensch selbst in der Welt beansprucht und welche Positionen er dabei anderen Lebewesen zuweisen möchte. Seit der Antike lassen sich da zwei grundsätzliche Konzeptionen verfolgen, die bis in die Moderne in mannigfachen Variationen immer wieder diskutiert wurden. Einmal die auf Aristoteles und die Stoa zurückgehende Theorie, dass der Mensch sich kraft seiner Vernünftigkeit und der damit verbundenen Rationalitäts- und Freiheitspotenziale von allen anderen Tieren fundamental unterscheide, da diese auf der Welt der unmittelbaren Wahrnehmungen, Instinkte und Empfindungen eingeschränkt seien. Und zum anderen die von den Pythagoräern und den Skeptikern dagegen vorgebrachte Überlegung, dass zahlreiche tierische Aktivitäten so komplex und raffiniert seien, dass sie nur mit der Annahme einer tierischen Rationalität erklärbar seien, was den Unterschied zwischen Mensch und Tier auf eine graduelle Differenz reduziere. Argos, der Hund des Odysseus, der als Einziger seinen Herrn nach 20-jähriger Abwesenheit „erkennt“, war dafür das klassische Beispiel.

In der Neuzeit wurden diese und ähnliche Argumente auf beiden Seiten geschärft, paradigmatisch dafür mögen die gleichermaßen berühmten wie berüchtigten Thesen von Descartes und Montaigne stehen. Während Descartes das Tier ausschließlich als Körper, als res extensa, verstehen wollte, dem er weder geistige Funktionen noch eine wirkliche Leidens- und Empfindungsfähigkeit zuerkannte und deshalb einer Maschine gleichsetzte, geißelte Montaigne den Hochmut des Menschen, der sich in einer anderen Welt als die Tiere wähne. An zahlreichen Beispielen, die sich weniger einer Beobachtung der Tiere als vielmehr der literarischen Überlieferung verdanken, demonstriert Montaigne die prinzipielle Gleichartigkeit von Mensch und Tier, ja, in manchen Belangen kann das Tier dem Menschen sogar als Vorbild entgegengehalten werden. Während bei Descartes die systematische Frage im Vordergrund steht, ob und inwiefern das Denken, die res cogitans, ausschließlich dem Menschen zukomme und damit das Tier einem ganz anderen Gegenstandsbereich angehöre, dominiert bei Montaigne ein moralisches Programm, das in der Ähnlichkeit zwischen Tier und Mensch ein entscheidendes Argument sieht, die Hybris des Menschen zu zügeln. Es gibt nichts, was der Mensch für seine Besonderheit hält, das nicht eine Entsprechung im Tierreich hätte. Nicht nur logisches Denken, auch religiöse Gefühle scheibt Montaigne den Tieren zu, und dass der Mensch sich dem Tier überlegen dünkt, erscheint ihm eher als Ausdruck der Unfähigkeit des Menschen, das Tier in seiner Eigenart und Souveränität richtig zu erfassen: „Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?“ Die Gleichrangigkeit zwischen Mensch und Tier dient auch schon Montaigne dazu, den Menschen darauf hinzuweisen, dass er nicht nur kein Recht hat, sich einen Sonderstatus zuzuschreiben, sondern es dafür auch keine guten Gründe gibt.

Diese Debatte wiederholte sich auch in der moderneren Philosophie, man denke etwa an Kant und Schopenhauer. Wie kaum ein anderer Philosoph beharrte Kant darauf, dass der Mensch sich durch seine Vernunft als Person definiert, die sich selbst den Zweck ihres Daseins setzt und deshalb durch Rang und Würde grundlegend vom „vernunftlosen Tier“ unterscheide. Mit dem Tier kann man deshalb auch „nach Belieben schalten und walten“. Wohl sprach sich auch Kant gegen Tierquälerei aus, allerdings weniger aus Sorge um das Wohlergehen der Tiere als vielmehr aus Sorge um die Sittlichkeit des Menschen, die durch Grausamkeit den Tieren gegenüber zu verrohen drohe. Ganz anders der Kantianer Schopenhauer. Der Misanthrop, der mit seinen Hunden einen innigeren Umgang pflegte als mit seinen Zeitgenossen, sah im Tier ein empfindendes und leidensfähiges Wesen, von dem sich der Mensch durch seinen Intellekt nur unwesentlich unterscheide, weshalb das Tier auch das Recht auf eine Behandlung verdiene, die anerkennt, dass das Tier so wie der Mensch einen Anspruch auf „Dasein, Wohlsein, Leben und Fortpflanzung“ habe. Schopenhauers Mitleidsethik, die prinzipiell in der Fähigkeit des Menschen, das Leid der anderen zur Motivation seines Handelns zu machen, die Grundlagen der Moral sah, konnte deshalb das leidensfähige Tier in diese Moral einbeziehen.

Die Nähe des Menschen zum Tier unterstrich auch der Schopenhauerianer Nietzsche, wenngleich mit ganz anderen Akzenten. Der umstrittene Philosoph, dessen geistiger Zusammenbruch sich ankündigte, als er in Turin ein gequältes Pferd mitleidig umarmte, sah den Menschen selbst als Tier, wenn auch als das „nichtfestgestellte“ Tier, das der Welt gegenüber durch eine Offenheit und Freiheit gekennzeichnet ist, die anderen Tieren, die an ihre Instinktprogramme gebunden sind, fehlt. Diese Exterritorialität des Menschen war für Nietzsche aber kein Vorzug, sondern ein Defekt: Indiz einer krankhaften Entwicklung – und womöglich weiß das Tier darum: „Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat – als das wahnwitzige Tier, als das lachende Tier, als das weinende Tier, als das unglückselige Tier.“

Natürlich, auch das ist ein Anthropomorphismus aus dem Geiste der Kulturkritik. Aber ist es nur dieses? Und ist der Anthropomorphismus, der lange dazu diente, alle Konzeptionen, die dem Tier Fähigkeiten, Empfindungen und Verhaltensweisen zuschrieben, die wir auch vom Menschen kennen, nicht auf dem besten Wege, durch die moderne Biologie rehabilitiert zu werden? Hat Nietzsche nicht avant la lettre die Konsequenz aus der These gezogen, dass das Tier nicht nur Objekt für uns, sondern auch ein Subjekt ist, dem wir Objekt – und dies nicht nur im Sinne einer Beute – werden können? Aber, so könnte man fragen, definiert sich das Verhältnis von Mensch und Tier letztlich nicht überhaupt durch die Praxis? Ist es, wie immer man theoretisch darüber denken mag, nicht der Mensch, der durch sein Handeln dem Tier gegenüber seine Sonderstellung behauptet? Die Zähmung der Tiere, ihre Transformation zu Haustieren, ihre industrielle Produktion und Vernutzung und nicht zuletzt ihre Ausrottung auch dort, wo die Tiere weder eine Gefahr noch eine Bedrohung für den Menschen darstellen, sondern nur der Trophäen- und Jagdlust des Menschen geopfert werden: Drückt all das nicht eine Souveränität und Macht des Menschen gegenüber dem Tier aus, die es auch kategorial degradiert? Schon Montaigne hat dieses Argument mit dem Hinweis zu entkräften gesucht, dass eine praktisch ausgeübte Herrschaft kein Grund dafür ist, dem Unterworfenen einen anderen Seinsstatus zuzuschreiben – schließlich würden Menschen auch Menschen unterwerfen, ohne dass diese aufhörten, Menschen zu sein. Und lange vor den Tierethik- und Tierrechtsdiskussionen der Gegenwart haben Horkheimer und Adorno festgehalten, dass ein Verhalten, das die alltägliche Gewalt, die gegenüber Tieren ausgeübt wird, einfach wegblendet, an die „Ahnungslosigkeit“ erinnert, mit der Menschen in totalitären Systemen ihre Augen vor Schandtaten verschließen.

Genau hier aber liegt das Paradoxon unserer Gegenwart. Man kann sich dies Eindrucks nicht erwehren, dass auch in Fragen der Tierphilosophie die Eule der Minerva ihren Flug nach der Dämmerung beginnt. Je theoretisch anspruchsvoller die Debatten um die Differenz oder Nichtdifferenz von Mensch und Tier werden, je näher uns das Tier in unserem Erkenntnisstand rückt, je mehr wir uns als Produkt einer Evolution begreifen müssen, die uns nicht aus dem Tierreich herausführt, je höher die moralischen Ansprüche auch gegenüber Tieren werden, desto mehr sticht ins Auge, wie wenig sich im kollektiven Verhalten praktisch ändert. Auch wenn philosophische Überlegungen schon in der Antike zu Formen des Vegetarismus geführt haben, auch wenn im Einzelfall ethische Reflexionen und erschütternde Dokumentationen über das Leid der Tiere zu Verhaltensänderungen führen – in Summe gehen die Ausrottungspolitik auf der einen Seite und die industrielle Tiernutzung auf der anderen Seite nicht nur weiter wie bisher, sondern scheinen sich zu intensivieren. Leergefischte Meere, Raubkatzen, deren letzte Vertreter nur noch in einigen Zoos zu finden sind, und riesige Tierfabriken, die den Fleischbedarf expandierender Gesellschaften stillen müssen, sprechen eine deutliche Sprache.

Das Tier, so könnte man sagen, bleibt, gerade in seinem Verschwinden und in seiner erbarmungslosen Reduktion auf seinen Nährwert und Materialstatus, eine einzige Provokation für jenes Tier, das sich von allen anderen Tieren dadurch unterscheidet, dass es sich manchmal kokett als Tier bezeichnet. Aber der Aufruf, dem Tier endlich angemessen zu begegnen und ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, kann nur von einem Tier kommen, das zumindest tendenziell aufgehört hat, ein Tier zu sein und deshalb sein Verhältnis zur Tierwelt nach anderen Gesichtspunkten gestalten kann als nach denen seiner Natur. ■



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