Kein Topf, kein Nest, kein Kessel

Der diesjährige Plischke-Preis wurde verliehen. The winner is: das Fußballstadion Letzigrund in Zürich. Zu Recht. Wie sich eine Jury einer aktuellen Dok- trin widersetzt.

Eine differenzierte Architektur des zweiten und dritten Blicks“ zu würdigen ist Absicht der Initiatoren des Ernst-A.-Plischke-Preises. Ausgelobt hat ihn die vor fünf Jahren zum 100. Geburtstag des Architekten und langjährigen Lehrers an der Akademie der bildenden Künste gegründete Ernst-A.-Plischke-Gesellschaft, die mit dem Preis das Erbe Plischkes vergegenwärtigen möchte. Verliehen wurde er im Anatomiesaal, im Souterrain der Akademie der Bildenden Künste, wo Plischke von 1963 bis 1973 jeden Dienstag seine Vorlesung hielt. Etwas improvisiert, ein wenig schrullig, aber dennoch trotz großer Hitze recht würdevoll und herzerwärmend sympathisch zelebriert, glich die Veranstaltung einem großen Familientreffen, zu dem Mitglieder, Freunde und Sympathisanten der Plischke-Gesellschaft auch von fern angereist waren.

Bewerben kann man sich für den Preis nicht, sondern man wird dafür von den Mitgliedern des Vereins nominiert. Das wirkt vorerst eigen und riecht ein wenig nach Freunderlwirtschaft. Wer wen nominiert hat, ist jedoch aus der anlässlich des Preises im Verlag Anton Pustet erschienenen Publikation ersichtlich. Sogar die Termine der Jurysitzungen und Besichtigungsfahrten (und wer daran teilgenommen hat) sind festgehalten. Man kann sich ein unterhaltsames kleines Spiel daraus machen, Beziehungen oder gar Naheverhältnisse zwischen Nominierenden und Nominierten aufzuspüren, und muss schlussendlich anerkennen, dass die Entscheidungen für die acht Anerkennungen und den mit 10.000 Euro (die übrigens von den Vereinsmitgliedern aufgebracht wurden) dotierten Plischke-Preis mit Sorgfalt getroffen wurden. Es sind nicht nur aktuellste Bauten, die vorgeschlagen wurden. Manche von ihnen gingen schon vor über zehn Jahren durch die Medien, wie „La Congiunta“, das Haus für die Skulpturen des Bildhauers Hans Josephsohn im Tessin von Peter Märkli, oder das Domizil für einen Pianisten in Tirol von Margarethe Heubacher-Sentobe. Diese Gebäude erhielten ebenso eine Anerkennung für hohe Qualität wie die bedächtig nach und nach aus traditionellen Materialien in den Hang der Kinderalm in St. Veit im Pongau gefügte Anlage des Frauenklosters „Maria im Paradies“ von Matthias Mulitzer, das Badehaus Schörfling am Attersee von Luger & Maul, die Generali Foundation von Jabornegg & Palffy, das Wohnhaus B-B im Burgenland von Artec, die Seebühne Lunz am See von Hans Kupelwieser und Werkraum Wien und die Grenzstation Tisis von den Aix Architects aus Feldkirch.

Der Hauptpreis ging an das Stadion Letzigrund in Zürich, geplant von Marie-Claude Bétrix & Eraldo Consolascio mit Frei & Ehrensperger Architekten. Es ist kein Topf, kein Nest, kein Kessel mit hermetisch nach außen abgeschlossener Hülle, die als Wahrzeichen und Werbeträger oder anderweitig kommerziell genutzt werden könnte. Die Zürcher widersetzten sich dieser aktuell gültigen internationalen Doktrin und setzten statt dessen eine zur Umgebung hin offene Struktur, die in erster Linie auf die Interessen der Bürger und Nutzer und weniger auf jene der internationalen Fußballverbände abgestimmt ist.

Das Stadion ersetzt den bereits 1925 eröffneten Vorgängerbau, eine im Lauf der Zeitmehrmals ausgebaute multifunktionale Anlage, die neben Fußballveranstaltungen das jährliche Leichtathletik-Meeting ebenso beherbergte wie Konzertveranstaltungen. Um als Austragungsort für Großveranstaltungen konkurrenzfähig zu bleiben, entschloss man sich im Hinblick auf die Fußballeuropameisterschaft für einen Neubau.

Eigentlich sollte der ja an Stelle des Hardturm-Stadions in Form eines Megaprojekts mit kommerzieller Mantelnutzung entstehen, wogegen sich die Bevölkerung jedoch erfolgreich wehrte. Bauherrin und Eigentümerin des Letzigrund ist die Stadt Zürich, die darauf bedacht war, das innerhalb eines Wohnquartiers gelegene Stadion trotz erhöhter Sicherheitsanforderungen weiterhin als Identitätsträger für die Bevölkerung zu positionieren. Man wünschte sich eine Anlage, die auch die Bedürfnisse der regionalen Bevölkerung einbezieht.

Bétrix und Consolascio konzipierten eine Sport- und Veranstaltungsarena, die an drei Seiten zum angrenzenden Quartier hin durchlässig ist. Indem sie die Spielfläche etwa acht Meter unter das bestehende Gelände absenkten, sodass die obersten Tribünenreihen sich etwa auf Straßenniveau befinden, konnten sie das überirdische Gebäudevolumen stark reduzieren. Erschlossen wird über eine umlaufende Rampe. Darüber liegt auf sich nach oben hin verjüngenden Stützenpaaren aus Cortenstahl das schlanke Band des leicht geknickten und geneigten Daches. Anstatt eines Topfes, der keinerlei Bezug zur Umgebung hat, setzte man auf eine Art Amphitheater mit leichtem Sonnensegel, das sich organisch in das Quartier einfügt und nicht nur Ein- und Ausblicke erlaubt, sondern tatsächlich auch als städtischer Freizeitraum außerhalb von Veranstaltungen für die Bevölkerung zugänglich ist. Natürlich gibt es aus Sicherheitsgründen eine robuste Einzäunung. Die ist aus vertikal angeordneten Corten-Flachstählen gebildet und visuell durchlässig. Acht Durchgänge gewähren Einlass und werden nur im Fall einer Großveranstaltung mit Drehkreuzen geschlossen.

Ein Stadion für die Bürger also, schließlich haben die es auch aus ihren Steuergeldern finanziert. Bétrix & Consolacio haben die städtischen Vorgaben virtuos in Architektur gegossen.

„Ein Stadion muss auch dann gut aussehen, wenn es nicht voll ist“, sagt Eraldo Consolascio. Das Rot der Sitze, das Rostbraun von Cortenstahl, die Dachuntersicht aus Robinienholz und die extensiv begrünte Dachfläche, in die auch noch Solarpaneele mit einer Gesamtfläche von 2500 Quadratmetern aufnimmt, sorgen für ein angenehmes, Harmonie ausstrahlendes Flair und machen die Anlage zu einem Ort, der auch dann Stimmung vermittelt, wenn er unbespielt ist.

Bauten, die nicht nur auf eine spektakuläre äußere Erscheinung setzen, sondern wo Konstruktion und Bauplastik im Einklang stehen und das Ganze eine Synthese von Gestalt und Zweck ergibt, wollten die Auslober des Plischke-Preises vor den Vorhang holen. Solche Bauten erschließen sich nicht gleich beim oberflächlichen Hinschauen, sondern bedürfen eines zweiten und dritten Blicks. Das Stadion Letzigrund erfüllt diese Kriterien gleichermaßen mit Hausverstand wie Grandezza. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2008)

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