Damals schrieb Theater und Geschichte

Paris, 28. September 1865. Man hat bisweilen gesagt, daß die Geschichte der Presse eines modernen Staates seine gesammte politische und Culturgeschichte in nuce in sich schließt. Der französische Schriftsteller Theodor Muret wendete den Satz auf ein anderes öffentliches Institut, auf das Theater an, und unternahm es, eine Geschichte Frankreichs vom Ausbruch der ersten bis zum Beschluß der letzten Revolution, von 1789 bis 1851, abstrahiert von dem, was in dieser Zeit auf den weltbedeutenden Brettern vorging, zu schreiben. Der Verfasser nennt sein Werk bescheiden ein „Feuilleton der Geschichte“, aber, in der That, wenn man diese drei Bände durchblättert, muß man (und als Deutscher nicht ohne Beschämung) gestehen, daß das Theater in Frankreich doch mehr, als irgendwo anders, der bekannten Anforderung Hamlets, „dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abbruch seiner Gestalt zu zeigen“, entsprochen hat.

Um nur das letzte Menschenalter zu nehmen, welches Ereignis, welche Idee hat in diesem Zeitraum Frankreich bewegt, die nicht in den Coulissen seiner Schauspielhäuser ein Echo gefunden hätten! Ein treuer Gefährte, theilte die Bühne mit der Nation ihre Freuden und Leiden; sie jauchzte auf nach den Julitagen, sie donnerte gegen England 1840, sie murrte unter dem Ministerium Guizot, sie erweckte durch den Mund der Rachel die Marseillaise aus dem Grabe der ersten Revolution, und sie fiel endlich dem Retter der Gesellschaft in die Arme. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2015)

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