Gustav Freytag und die Wiener

Wien, 23. August 1866. Er ist in gutemAndenken bei euch, Wiener, der Verfasser von „Soll und Haben“, der „Verlorenen Handschrift“ und der Abende, welche euch durch die „Journalisten“, „Die Valentine“ und den „Grafen Waldemar“ im Burgtheater geworden!

Seid ihr auch leichtlebig, so ist euch nicht der Sinn abhanden gekommen, festzuhalten, was euch Freude macht, des Guten eingedenk zu sein, und Dankbarkeit zu bewahren. Aber welch eine wunderliche Rolle würdet ihr spielen, wenn ihr im gegenwärtigen Falle diese Eigenschaften zum Ausdrucke bringen wolltet! Noch mehr: eine klägliche Rolle. Um euch dieselbe zu ersparen, haben wir die Feder ergriffen.

Gustav Freytag ist nicht so leichtlebig wie ihr, er ist ein Sohn der Gründlichkeit. Dennoch hat er in jüngster Zeit alle Erinnerungen eingebüßt, welche mit der liebevollen Aufnahme seiner Geisteskinder in Wien zusammenhängen, hat eine Leichtfertigkeit in der Beschreibung Wiens an den Tag gelegt, daß man an seinem preußischen Verstande irre werden könnte. Seit der Schlacht von Königgrätz hat sich der stets nergelnde, sich reibende Gustav Freytag in den rücksichtslosesten Feind dieses Reiches verwandelt, seit der Occupation Böhmens durch die preußischen Truppen ist aus seiner niemals verleugneten Abneigung gegen Wien ein schnöder Haß geworden, der die mangelnde Kraft entscheidender Motive durchein souveränes Grinsen zu ersetzen sucht,wie wir es von verbitterten Norddeutschen gewöhnt sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2016)

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