Damals schrieb Zähmung der Deputirten

Berlin, 21. September 1866. Jede Art der Beschäftigung hat ihre wissenschaftliche Bearbeitung. Wir haben Lehrbücher der Dichtkunst, Kochkunst, Theologie. Die Menschenschlächterei – Kriegskunst – und die Ochsenschlächterei, der Menschen- und Flohfang wurden gründlich und systematisch bearbeitet. Nur Eines ausgenommen. Die Kunst, oppositionelle Deputirte zu zähmen, wurde noch niemals wissenschaftlich bearbeitet. Doch ist eine „Anleitung zur Behandlung oppositioneller Abgeordneter“ das dringendste Bedürfnis unserer Zeit. Volksvertreter sind heute ein so nothwendiges Uebel für die Regierungen, wie die Kleider für den civilisirten Menschen. Im Stande der Unschuld konnten die Menschen ohne Feigenblatt umherlaufen; seit im civilisirten Europa die politische Unschuld dahin ist, wagt kein Minister mehr, sich ohne das parlamentarische Feigenblatte („Blatt Papier“) zu zeigen.

Auch bieten die Kammern Vortheile. Sie geben Gelegenheit zu einer jährlich wiederkehrenden Ceremonie, bei der ein kluger Herrscher, wie Napoleon, das Sacktuch aus der Tasche zieht, sich schneuzt und mit seelenvoller Miene Europa seine Meinung – verschweigt, oder ein Fürst, wie Wilhelm I., alle während der letzten zwölf Monate angehäufte Galle auf die Volksvertreter ausschüttet. Den größten Werth aber haben Häuser, Tage, Kammern und Divans als Schröpftöpfe für das Volk; seit ihrer Einführung ziehen die Regierungen das Doppelte und Dreifache an Steuern aus dem Lande. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2016)

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