Die Mur, die Mark, das Bauen

Unkonventionell präsentiert: die neue steirische Architektur. Eine lang angekündigte Ausstellung zeigt sie in Filmsequenzen, ein Jahrbuch streng subjektiv. Und wo bleiben Vermittlung und Analyse?

Lange musste man auf eine Gesamtschau aktueller steirischer Architektur warten. In der Nachfolge jener denkwürdigen Ausstellung des Forums Stadtpark im Jahr 1984, die die „Grazer Schule“ positionierte und die Steiermark als interessantes Architekturland mit einem Schlag über Österreich hinaus bekannt machte, geschah lange, mit Ausnahme verstärkter Aufmerksamkeit für neue Tendenzen im Wohnbau der Steiermark in zwei Publikationen, nichts. 1998 brachte das Grazer Haus der Architektur (HDA) in englischer Sprache ein Buch des Londoner Architekturtheoretikers und Journalisten Peter Blundell Jones heraus, der seine Vorliebe für die ausgeprägten Individualisten aus der Steiermark schon zuvor in der „Architectural Review“ zum Ausdruck gebracht hatte. Seine theoretische Aufarbeitung blieb bis heute die einzige umfassende Analyse der bemerkenswerten Architekturproduktion einer Region, die damals noch am südöstlichsten Rand Europas lag.

Sieht man von einer kartografischen Bestandsaufnahme der neuen Architektur in Graz und in der Steiermark nach 1990 ab, die in zwei Architekturführern Platz fand, folgte dann wieder lange nichts. Ab 2005 versuchte das HDA, das Beste der steirischen Architektur in Jahrbüchern auszustellen. Allein, Auswahlkriterien und Erscheinungsform dieser Publikationen waren nicht dazu angetan, den gewünschten Diskurs über Qualität, politische Verantwortung und gesellschaftliche Akzeptanz des Bauens hierzulande in Gang zu bringen. – Die Zeit war also reif dafür, die Architektur aus der Steiermark neu zu positionieren und ins Licht zu rücken. Innovationen wurden alsbald angekündigt. Charlotte Pöchhacker, die Leiterin der Medien und Architektur Biennale Graz, hatte noch von Landeshauptfrau Klasnic die Zusage für ein stattliches Budget zur internationalen Präsentation steirischer Architektur erhalten. Sie präsentierte das Konzept einer unkonventionellen Ausstellung, die auf ihrer Tour durch Europas Metropolen von Diskussionen mit örtlichen Architekturschaffenden begleitet und darüber hinaus mit Ideen und Entwürfen angereichert werden sollte, die als Echo auf das Gezeigte die Schau in jeder Stadt erweitert hätte. Als letzte, bereicherte Station war Graz vorgesehen.

Bald darauf kündete das Land Steiermark die Neustrukturierung seines Architekturpreises an und übertrug die Auswahl erstmals nicht einer Jury, sondern einem Kurator. Andreas Ruby aus Berlin wählte nicht nur den Preisträger 2008 aus, sondern konzipierte auch das Jahrbuch neu, das im Spätherbst 2009 vorlag. Die Auswahl der darin enthaltenen Objekte wurde auf die von Ruby für den Preis nominierten zwölf Projekte beschränkt, die den Hauptpreis einschließen. Die Präsentation der 70 nicht prämierten Projekte in der an die Preisverleihung gekoppelten Ausstellung entfiel.

Selbstbewusst setzt Ruby ganz auf die subjektive Entscheidung des Kurators. Zugleich entzieht er sich jedoch der Begründung seiner Auswahl, indem er Projekttexte mit der Begründung, dass diese kaum gelesen werden und dass Architekten als „notorische Gelegenheitsleser“ bekannt sind, weglässt. Dessen ungeachtet kommen – stets mehrere Seiten lang – Bewohner, andere Nutzer, Anrainer, zufällig Vorbeigehende und die Architekten zu Wort, deren Aussagen und Urteile zeigen sollen, wie unterschiedlich Architektur in der Gesellschaft wahrgenommen wird. Ruby zielt auf vielstimmige Präsentation ab, auf Authentizität durch Volkes Stimme, die er für kurzweilig hält. Um Erkenntnisvermittlung, indem Qualität explizit aufgezeigt und erklärt wird, kann es ihm nicht gehen, ist doch die Analyse seiner Auswahl in ein 15-seitiges Nachwort verpackt. Auch die Fotografien der mexikanischen Fotokünstlerin Livia Corona vermitteln nur bedingt, was die Besonderheit der für den Architekturpreis nominierten Bauwerke und Plätze ausmacht. So zeigt das Buchcover die Schönheit und Aufenthaltsqualität üppiger grüner Wiesen, nicht aber die des Einfamilienhauses, das hier im Bildhintergrund versinkt, obwohl der Kurator es geradezu emporstemmt, indem er ihm den Steirischen Architekturpreis 2008 zuerkannt hat. Die von ihr bevorzugte Form der inszenierten Fotografie hat die Künstlerin auch für einen Teil der im Jahrbuch präsentierten Objekte gewählt. Ob die Inszenierungen mit ausgesuchten Statisten und Requisiten weniger artifiziell und distanziert wirken als die übliche, auch von Ruby kritisierte Architekturfotografie, darüber ließe sich streiten.

Als Standbildfolgen nimmt man auch die Filme von Heinz Emigholz wahr. Der Professor für Experimentelle Filmgestaltung an der Universität der Künste in Berlin hat die von einem Gremium ausgewählten Beispiele abgelichtet, die Charlotte Pöchhacker nun in ihrer mit hohen Erwartungen begleiteten Ausstellung über aktuelle Baukultur aus der Steiermark zeigt. Die Schau mit dem Titel „Sense of Architecture“ ist nach Stationen, die sie in reduziertem Umfang unter anderem nach Berlin, New York, Venedig und Belgrad gebracht hat, als Gesamtprojekt mit 46 Kurzfilmen im Grazer Künstlerhaus zu sehen.

Sechs Screens auf fünf frei im Raum platzierten „architektonischen Displays“, die Alexander Kada mit transparenten und opaken Flächen gestaltet hat, die eine Vielfalt an Durchblicken und Sichtbezügen eröffnen sollen, zeigen bis 10. Jänner ein höchst eigenwilliges Bild der Architekturproduktionaus der Steiermark. Emigholz filmt statisch – kein schneller Schnitt, nie ein Kameraschwenk. Dabei kippt er das Bildobjekt mit Vorliebe aus der Vertikalen, was nicht nur wegen der vielen Schrägen in den gezeigten Bauten irritierend ist. Räume werden ausnahmslos partiell ins Bild gerückt. Der Zuschauer soll animiert werden, sich den Raum aus einer Bildfolge zu imaginieren, was selbst für in Raumgestalt und Proportion Geschulte schwierig ist. Raumwirkung vermisst man denn auch.

Die Gedankenstruktur zu den beiden unterschiedlichen Präsentationen rezenter steirischer Architektur scheint geradezu deckungsgleich. Der künstlerische Aspekt steht im Vordergrund. Nicht die Intention des Architekten wird herausgeholt und ins Bild gebracht, sondern die Handschrift des Filmemachers und der Fotografin.

Charlotte Pöchhackers Verdienst ist es, nach 25 Jahren wieder eine Gesamtschau der steirischen Architektur zu zeigen. Es ist ein Bilderbogen ohne Analyse, Kritik und theoretische Aufarbeitung. Kontext und Hintergründe des derzeit geringen Engagements der Politik für die Architektur der Steiermark zeigen beide Präsentationen nicht auf. Dies wäre gerade in jenem Bundesland von besonderem Interesse,
das einst so vieles hervorbrachte, weil es sich der Förderung von Baukultur verpflichtet hatte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2010)

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