„Häuser schauen“

Architekturvermittlung boomt, das Interesse an gebauter Alltagskultur ist ungebrochen, die heurigen Architekturtage haben es wieder gezeigt. Bewirken solche Veranstaltungen wirklich ein tieferes Verständnis für die Baukunst?

Geschafft! Der große Run auf die heuer zum fünften Mal österreichweit inszenierten Architekturtage gibt dem Bemühen um Vermittlung von Kenntnissen über Architektur und Stadtentwicklung recht. Diese Tage an einem Wochenende im Mai sind mit den Jahren zu einem Fixpunkt für an Architektur Interessierte geworden. Menschen, die sich für das Bauen, den Bauprozess und für die sogenannte moderne Architektur interessieren, haben ganz unterschiedliche Motive für ihr Wissensbedürfnis. Sie suchen Inspiration und Entscheidungshilfen für eigene Bauvorhaben oder sind über Bauwerke in ihrem Lebensumfeld, die die Fachwelt positiv rezipiert oder kontroversiell diskutiert, der Thematik nähergekommen. Viele sind aber einfach neugierig, zu sehen, wie andere Menschen wohnen, und nicht wenige sind durch eine stets wachsende Zahl an Beiträgen in den Medien (wie auch wöchentlich auf dieser „Spectrum“-Seite) motiviert, dem Qualitätsbegriff für zeitgenössische Architektur selbst nachzuspüren.

Kein Wunder, dass die größte Nachfrage bei den diesjährigen Architekturtagen jene nach den geführten, vielfach thematisch aufgefächerten Touren war. So konnte man in Oberösterreich Bauten der Arbeit für Bildung, Medizin, Gewerbe und der Landwirtschaft in Augenschein nehmen, in Salzburg Einblick in die Vielfalt von Religionen über ihren baulichen Ausdruck erhalten und Bauten und Landschaftsräume besichtigen, die Vorarlbergs Kommunen kulturell bereichern sollen. Die Steiermark bot Gelegenheit, Orte städtischer Infrastruktur zu besuchen, die sich der allgemeinen Sichtbarkeit entziehen oder von den höchsten Plattformen der Stadt den Blick auf Baustellen, Stadtteiltransformationen und Stadtentwicklungsgebiete zu werfen.

„Häuser schauen“ ist nicht nur hierorts ein Hit, sondern zeigt sich als weltweiter Trend in all jenen Metropolen und Regionen, die rege Bautätigkeit und ein sichtbares Bemühen um Baukultur aufweisen können. Die Architektenkammern Deutschlands rufen jährlich bundesweit einen Tag der Architektur aus und geben 150.000 Besucher für die 2009 angebotenen Aktivitäten und Programme an. In London und New York werden die Angebote zur Besichtigung von Bauten und Environments zu den „Open-House“-Tagen regelrecht gestürmt, und in den vielen europäischen Großstädten gibt es Architekturzentren, die Touren anbieten. Unternehmen und Hochschulen, aber auch kulturinteressierte Städtereisende bedienen sich für Touren auf hohem fachlichem Niveau des Netzwerks von „Guiding Architects“, die von Lissabon bis Moskau, in Shanghai, Dubai und New York Architekturexkursionen organisieren.

Jedes Reiseunternehmen mit Kulturangebot hat heute Gehry's Museum in Bilbao im Pflichtprogramm und sicher bald Zaha Hadids Museum MAXXI in Rom. Daraus lässt sich schließen, dass das Interesse an Architektur kontinuierlich zunimmt, nicht aber, dass dies zu einem tieferen Verständnis für Baukultur – oder richtig: Baukunst – führt. Streng genommen muss der Begriff der Baukultur wertfrei verwendet werden, denn er definiert nicht mehr als die Summe der Bautätigkeit einer Gesellschaft, einer Region oder einer Epoche. Baukunst macht demnach nur einen Teil jeder Baukultur aus. Dazu stellt Friedrich Achleitner in seiner humorvoll-trockenen Art kurz und bündig fest: „Lange nicht alles, was von Architekten entworfen wird, ist Architektur.“ Dass es in der Kunst wie in der Architektur auch auf höchstem Niveau divergierende Meinungen gibt, liege in der Natur der Sache. Fischer von Erlach, meint er, mag einmal eine Geschmacksfrage gewesen sein, aber sicher keine Frage der künstlerischen Qualität. Hollein oder Hundertwasser hingegen sei keine Geschmacksfrage, sondern eine des künstlerischen Niveaus.

Was kompliziert klingt, fordert dem Architekturvermittler viele Fähigkeiten ab. Etwa jene, ein Objekt in seinem (stadt-)räumlichen, gesellschaftlichen und zeitlichen Kontext verorten zu können, Hintergründe seines Entstehens zu beleuchten und Vorgaben zu erläutern. Es gilt, Ideen und Konzepte, die jedem Bauwerk mit baukünstlerischem Anspruch zugrunde liegen, mit kritischer Distanz zu vermitteln, zugleich jedoch auf räumliche und atmosphärische Qualitäten, auf gute Licht- und Wegeführung, funktionelle Optimierungen, auf gelungene Materialauswahl und Detailausbildung mit Empathie hinzuweisen. Es gilt, blitzschnell zu erspüren, wie viel an Informationen dem jeweiligen Publikum zuzumuten ist und wie detailliert man Wissen weitergeben kann. Es gilt zu differenzieren. Oberflächliche Werturteile nach dem Motto „gut oder schlecht, richtig oder falsch“ sind keinesfalls angebracht. Es gilt, seine Zuhörer nicht zu überreden, sondern selbst schauen zu lehren.

Auch wenn sich Vermittler darauf einigen könnten, dass Architektur eine Frage des künstlerischen Niveaus ist, ist es schwierig, dies zu näherzubringen, weil alles Innovative, nie Gesehene und damit Ungewohnte Zeit braucht, um akzeptiert und bestenfalls verstanden werden zu können. Riklef Rambow, der als Erster Rezeption und Architekturverständnis von Laien aus der Sicht des Psychologen untersucht hat, behauptet eine Ungleichzeitigkeit von etwa zehn Jahren.

Daraus könnte man schließen, dass Architekturvermittlung gar nicht sinnvoll sein kann. Nun denn: Baukunst besteht nicht nur aus schwer verständlichen, sperrigen Spitzenleistungen der Architektur und aus jenen Knallbonbons, die zum Lockmittel für Touristiker taugen. Sie speist sich aus vielen Beispielen einer gebauten Alltagskultur, die unter günstigen Voraussetzungen mit guten Partnern entstehen können. Ihre Vorzüge zu vermitteln hat Sinn, weil à la longue ein breiteres Verständnis für Qualität dazu führen wird, besser gestaltete Lebensräume einzufordern und zu fördern.

Gerade deshalb scheint der diesbezüglich unerschütterlich zuversichtlichen Schreiberin wichtig, in der Vermittlungsarbeit von Baukultur (landläufig) oder dem, was Achleitner unter Architektur versteht, Kontinuität zu erzeugen und Leidenschaft für das Thema wecken zu können, damit die Teilnahme an Architekturtagen, an Busreisen für Bürgermeister oder das Vermittlungsprojekt in der Schule nicht nur eine einmalige Auseinandersetzung mit der baulichen Gestaltung von Räumen bleibt, die unser Leben in einer Unmittelbarkeit beeinflussen, die wir noch gar nicht endgültig erforscht haben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2010)

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