Neubau, Ausbau, Umbau?

Was ist heute zeitgemäßes Bauen im Bestand? Wie zurechtkommen mit einem städtebaulichen Kontext? Ein Bürobau im heterogenen Gefüge des Grazer Nikolaiplatzes zeigt, wie es geht.

Die Zeiten, in denen ganze Stadtviertel auf der grünen Wiese neu errichtet wurden, sind passé. Stadtentwicklung bedeutet heute vor allem die Transformation der bestehenden Stadt. Stadtumbau ist demnach Abriss und Neubau, ist Umnutzung, Umbau und Ausbau vorhandener Bausubstanz. Stadterweiterung heißt Verdichtung, Lückenschluss. Große Bedeutung kommt dabei dem „Wie“ im Umgang mit Baugeschichte und Baubestand als wesentliches, die Stadt prägendes Merkmal und identitätsstiftende Kraft zu.

Auf der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig thematisiert Rem Koolhaas mit seinem als Denkwerkstatt eingesetzten Bürozweig AMO den Erhalt und Schutz von baukulturellem Erbe – angeregt durch immense, nun renovierungsbedürftige Baumassen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber weit darüber hinausgehend. Fragen der Bewahrung und des Denkmalschutzes werden in dieser brisanten Schau so gestellt, dass sie Anregung und Aufforderung zu intelligenten Analysen und Konzepten jenseits von Traditionalismus, Schwarz-Weiß-Denken und Schematisierung sind. Derart ideologiefreies, „wildes“ Nachdenken kann nicht in Lösungen gipfeln, die die historische Rekonstruktion von Gebäuden vorsieht, wie sie mit der Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses geplant ist. Es lässt hingegen zu, die Sinnhaftigkeit von Unterschutzstellungen zu hinterfragen, die Ikonen der Architektur wie Koolhaas' berühmtes Haus für einen Rollstuhlfahrer in Bordeaux wenig mehr als eine Dekade nach seiner Errichtung zu einem musealen Objekt macht, das man nicht mehr verändern darf, während gebaute Meilensteine gesellschaftlicher Entwicklung aus den Sechziger- und Siebzigerjahren zerstört werden.

Jedenfalls lässt sich aus Rem Koolhaas' wort- und bildgewaltigem Manifest ableiten, dass das Thema der Bewahrung zu vielschichtig ist, um es als Entweder–Oder zwischen oftmals ökonomisch begründetem Abriss oder musealer Konservierung und nostalgischer Erneuerung abzuhandeln.

Für Graz lässt sich feststellen, dass diese Erkenntnis spätestens um 1990, mit der allgemeinen Akzeptanz des ersten Neubaus in der Altstadt, dem Büro- und Geschäftshauses „M1“ am Färberplatz, zur Handlungsmaxime der Altstadterhalter wurde. Die historische, von der Unesco 1999 zum Weltkulturerbe gemachte Kernzone mit ihrer schützenswerten Substanz wird als funktionierender Organismus gesehen, der immer wieder belebender Injektionen in Form von zeitgemäßer Adaptierung und Erneuerung bedarf, um ihn vital zu erhalten.

Stadtentwicklung inkludiert in Graz auch die Entwicklung der geschützten Altstadt und darüber hinaus der Kernstadt: die Transformation des Bestehenden, die in der Hinzufügung und Überlagerung mit einer zeitgemäßen neuen Schicht resultieren darf. Dies nennt sich wie andernorts Bauen im Kontext oder Bauen im Bestand. Im Amtsdeutsch heißt es dann: „Bauliche Maßnahmen, die schutzwürdige Bauwerke oder Ensembles verändern, sollen auch nach dem Gesichtspunkt der baukünstlerischen Qualität im Sinn einer Legaldefinition des Einfügegebots beurteilt werden.“ Eine allgemeingültige Definition des Einfügegebots kann allerdings heute genauso wenig per Dekret verordnet werden wie allgemein verbindliche Qualitätskriterien für Baukultur. Das ist gut so, denn es erlaubt, von Fall zu Fall spezifische Kriterien der baulichen und stadträumlichen Eingliederung zu definieren, einzufordern – und zu beurteilen.

Der Fischer-von-Erlach-Preis des VereinsGrazer Altstadt, der in diesem Monat zum zweiten Mal seit 2006 vergeben wurde, soll für den sorgsamen Umgang mit alter Bausubstanz und im weiteren Sinn für die Fortschreibung der Geschichte der Baukultur der StadtGraz stehen. Bemerkenswert ist, dass dieser Preis, der durch die Vereinsvorsitzende in enger Verbindung mit der Altstadt-Sachverständigenkommission steht, das Ergebnis derEntscheidung einer externen Fachjury ist.

Nicht jede der vier aktuellen Prämierungen ist verständlich im zu beurteilenden Kontext – zumindest auf den ersten Blick. Ben van Berkels Konzept für das Haus für Musik und Musiktheater der Kunstuniversität Graz geht weder auf seine benachbarten Bestandsbauten noch auf die landschaftlichen Qualitäten des angrenzenden Parks ein. Die Jury argumentiert mit dem bedeutenden städtebaulichen und sozialen Impuls durch kulturelle Interventionen.

Der Neubau eines Bürogebäudes der Grazer Arbeitsgemeinschaft Bramberger architects mit dem Atelier Thomas Pucher scheint, oberflächlich betrachtet, ein sich selbst genügender Solitär zu sein. Er steht mitten am Nikolaiplatz, einem kleinen, zur Mur hin offenen Platz etwa einen Kilometer südlich des Kunsthauses. Dass er eine präzise Setzung ist – ein prozesshaft immer weiter optimiertes Ergebnis äußerst strikter Vorgaben und Rahmenbedingungen –, lässt sich erst vor Ort und im Wissen um den Kontext erkennen. Vor etlichen Jahren wurde auf dem dreieckigen Platz, der nach dem Patron der Schiffer benannt ist, weil er lange Zeit Anlege- und Verladestelle für Flößer auf der Mur war, eine Tiefgarage gebaut. Das Baurecht auf einer kleinen rechteckigen Parzelle auf der Garage blieb nach dem Abriss eines Lagers erhalten. In herkömmlicher, massiver Bauweise wären maximale Belastung der Tiefgarage und die Ausreizung der erlaubten Dichte schon mit einem zweigeschoßigen Gebäude erreicht gewesen, was weder Anreiz für eine private Investition noch städtebaulich angemessen gewesen wäre.

Die Architekten erarbeiteten mit dem Statiker eine leichtere Stahltragstruktur, die möglich machte, einen Kubus mit fünf oder genau genommen viereinhalb Geschoßen zu errichten. Die Fassaden spiegeln die Notwendigkeit, Gewicht zu sparen, wider. Raumhohe, aluminiumverkleidete Elemente im Leichtbau gehen mit gleich hohen Fixverglasungen ein Wechselspiel ein, das dem Haus Prägnanz und ikonenartige Bedeutung verleiht. Das Bauwerk wird zum visuellen Haltepunkt, gibt dem Platz eine neue Identität, schließt ihn jedoch zur Kaistraße und dem offenen Uferraum nicht ab. Einfügung ist nur in Bezug auf die Proportion des Bauwerks gegeben, seine Längsausdehnung und Höhe, die dem Bestand an der Längsfront des Platzes und dem Neubau an der gekurvten Straßeneinmündung angepasst ist.

Integration und Harmonie im stadträumlichen Kontext ergeben sich aus der richtigen Positionierung und der hohen baukünstlerischen Qualität des Gebäudes.

In Zeiten, in denen das Bauen keinem verbindlichen Regel- und Wertekanon mehr folgt, ist dieses im Prozess gefundene Beispiel eines kontextgebundenen Bauens ein gelungener Beitrag zur Transformation der Stadt Graz. Es zeigt eine Haltung zur Stadtentwicklung auf, die im Umgang mit dem Bestand eine Herausforderung sieht, der man sich nicht nur mit bewahrendem Geist, sondern auch mit Blick in die Zukunft, Mut und Selbstbewusstsein zu stellen hat. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.