Die neue Ordnung

Ein buntes Nebeneinander: Belgrad im Winter 2012 zeigt sich als Stadt mit reicher Baugeschichte im Zustand des Verharrens. Die Menschen versuchen dennoch guten Mutes zu sein.

Belgrad im Jänner 2012. Wer wohlwollenden Rat in den Wind schlägt und zur Fahrt ins Hotel den öffentlichen Bus nimmt, betritt am Slavija Platz die Stadt und erhält gleich eine eindrucksvolle Lektion Belgrader Stadtplanung. Fünf große Straßen münden in den Kreisverkehr um die Grünfläche, auf der nicht nur die überdimensionierte Büste eines sozialistischen Schriftstellers steht, sondern auch seine Gebeine liegen. Mit der Bauruine eines Vorstadthauses, Parkplätzen in Baulücken neben dem Hotel Slavija, der ersten osteuropäischen McDonald's-Filiale und einer längst grün überwachsenen Baugrube, über der 1940 (!) ein Warenhaus errichtet werden sollte, bleibt der Platz eine offene Wunde im Gewebe der Kernstadt am rechten Ufer der Save.

Auch hiefür soll Nikola Dobrovic als vielleicht wichtigster Urbanist und Theoretiker Belgrads ein Vorschlag entwickelt haben. Der wurde, wie alle seine Ideen zur städtischen Entwicklung, nie umgesetzt. Immerhin kann man sein siegreiches Projekt beim internationalen Wettbewerb 1929 für die Terazije über Planunterlagen mit dem Istzustand vergleichen. Für das lang gezogene Oval – nicht Platz und nicht Straße – an einer der nicht nur topografisch spannendsten Stellen auf dem Hügel hatte der Architekt eine großstädtische Geste aus kaskadenartig abgestuften Baukomplexen, die einen stattlichen öffentlichen Platz rahmen, vorgesehen. Heute ist dort, mit großartigem Ausblick auf die Ufer der Save und das dahinter aufsteigende Gewirr der Wohnblöcke von Novi Beograd, noch immer eine Brache. Sie wird an einer Seite von einem gerade fertiggestellten, mittelmäßigen Bürohaus gesäumt, auf der anderen von Feuermauer, Hinterhof und Nichts.

Es sind das Nebeneinander und die sich darin ausdrückende Vielfalt, die diese Stadt interessant machen. Sie liegt an zwei Flüssen, an Save und Donau. Ausgedehnte grüne Uferzonen, die von Hausbooten und Radwegen gesäumt sind, geben eine Ahnung von der Lebensqualität der Stadt in der warmen Jahreszeit. Vielfalt liegt schon in der Geschichte der Stadt begründet, die jahrhundertelang als strategisch wichtiger Ort heiß umkämpft war. Vom Barock der Habsburger, die die mittelalterliche, ummauerte Stadt einebneten, um im heutigen Stadtteil Dorcol ein deutsches Viertel für Einwanderer zu errichten, blieb, als die Türken die Stadt eroberten, nur das orthogonale Straßennetz. Selbst an ihre Herrschaft erinnern nur wenige bauliche Spuren.

Was der Stadt an gebauter Substanz erhalten blieb, ist ein buntes Nebeneinander, das den Schritt um jede Ecke zum neuen Erlebnis macht. Neben der eher geringen Zahl an Häusern im serbisch-byzantinischen Stil und einigen sezessionistischen Beispielen fällt der eklektizistische Stilmix an öffentlichen Repräsentationsbauten auf, die bis in die 30er-Jahre errichtet wurden. Zeitgleich, im Widerstreit mit dem monarchischen Zeitgeist, formierte sich eine „Gruppe der Architekten der modernen Bewegung“, der Belgrad Bauten zu verdanken hat, die der europäischen Moderne ebenbürtig sind.

Was der Zweite Weltkrieg auch hier gestoppt hatte, konnte im Nachkriegsbelgrad fruchtbar fortgesetzt werden. Der Weg Titos – die Gründung der Bewegung der blockfreien Staaten und seine Annäherung an den Westen – brachten nicht nur Entwicklungsgelder ins Land, sondern auch die Liberalisierung der jugoslawischen Gesellschaft mit sich. Aus dieser Zeit der Rekonstruktion stammen viele Wohnhäuser im Geist von Moderne und le Corbusier. Einige öffentliche Bauten dieser Ära, in der sich Belgrad zu einer Metropole internationalen Zuschnitts entwickelte, wie die Nationalbibliothek oder die Fakultät für Philosophie, zeigen eine eigenständige regionale Ausformung des Modern Style, in dem unter anderem die facettenreiche Anwendung von Stein Bedeutung erlangte. Preziosen jugoslawischer Baukunst sind auch das Sportzentrum des 25. Mai von Ivan Antic oder sein Museum für Zeitgenössische Kunst in Neu-Belgrad – kraftvoll in Form und Ausdruck.

Novi Beograd, die Stadt aus unzähligen, nicht enden wollenden Wohnquartieren am linken Ufer der Save, in der heute etwa 300.000 Menschen leben, hat seine Existenz nicht nur dem enormen Zuzug nach 1945 zu verdanken, sondern auch der Tatsache, dass die kommunistische Nomenklatura alles Bestehende und damit das alte Belgrad geringschätzte. Novi Beograd war das Symbol der neuen Ordnung – erbaut ab 1960 nach einem Generalplan, mit Einteilung in Blöcke und viel gepriesener Weitläufigkeit.

In der Kälte des zugigen Wintertags ist es hier nur trist. Punkthochhäuser, die lange Schatten auf ihre Nachbarn werfen, und endlos lange, bis zu vierzehn Geschoße hohe Häuserzeilen lassen einen froh sein, dass man diesen Stadtteil nicht zu Fuß durchmessen muss. Durchgrünung ist vom Auto aus kaum zu sehen, hingegen weisen Supermärkte, Behelfshallen und Kioske auf eine Nachverdichtung hin. Weitgehend frei von Bebauung zeigt sich nur die nordöstliche Uferzone des Stadtteils. Hier liegen Symbole der Privatisierungen seit 2001: das berühmte Hotel Jugoslavija und das Einkaufszentrum Usce mit dem Hochhaus, das einst der Sitz des ZK-Komitees war und das heute, nach der Bombardierung 1999 und Renovierung, den Schriftzug „Hypo“ auf dem Dach trägt.

Hier wie dort hat man den Eindruck, dass vieles auf Wiederbelebung wartet. Alle großen Museen sind gesperrt, nur das Nationalmuseum am Platz der Republik ist eingerüstet. Einzig die Kneza Mihaila, die als Fußgängerzone alle internationalen Modeketten aufbietet, zeigt sich herausgeputzt. Viele Bauten sind heruntergekommen und renovierungsbedürftig, was nicht nur mit Krise und politischer Isolierung, sondern wohl auch mit der noch nicht erfolgten Restitution zu erklären ist.

Dennoch ist Belgrad eine Stadt mit pulsierendem Leben, vollen Kaffeehäusern und geschäftigem Treiben. Das Warten auf bessere Zeiten wollen sich die Belgrader trotz prekärer Arbeitsverhältnisse nicht vermiesen lassen. Und so schwärmt Miodrag, der junge Architekt, in einer der Kneipen der provisorisch revitalisierten Beton Hala am Hafen vom dort erlebbaren Wintersonnenuntergang – notfalls auch ohne Kaffeegenuss. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.