Architekturkritik: Wie im Wilden Westen

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„Generationen Wohnen“ am Mühlgrund in Wien-Donaustadt: drei architektonische Antworten auf die Frage, wie sich Zusammenleben flexibel organisieren lässt.

Architekturkritik als Fortsetzungsroman, monatlich ein Grundstück weiter: Wenn sich auf diese Art eine spannende Reihe ergibt, ist das ein Glücksfall. Vor ein paar Wochen habe ich im „Spectrum“ einen Bau von ARTEC vorgestellt, ein sechsgeschoßiges Wohnregal an der U-Bahnlinie U2 in Stadlau. Das Gebäude dient nicht nur dem Wohnen, sondern bildet zugleich die Schallschutzwand für eine zwei- bis dreigeschoßige Verbauung auf dem nach Süden angrenzenden Grundstück.

Gemeinsam ist diesen niedrigen Häusern nicht nur das einheitliche Fassadenmaterial, eine raue Holzverschalung mit vertikalen Brettern, sondern auch das Thema „Generationen Wohnen“, das der Bauträger EBG von den Architekten behandelt wissen wollte. Die Frage, wie man das Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach durch intelligente Wohntypologien unterstützen kann, ist nicht neu, hat aber durch die demografische Entwicklung an Brisanz gewonnen.

Die kleinen Wohnhäuser, die in drei Bauteilen jeweils von Hermann Czech, Adolf Krischanitz und Werner Neuwirth geplant wurden, zeigen Grundrisslösungen, die über das Konzept der „Einliegerwohnung“, also einer Kleinwohnung als Annex an die Hauptwohnung, deutlich hinausgehen. Am konventionellsten in dieser Hinsicht sind die Häuser von Adolf Krischanitz, bei denen die Zusatzeinheiten als kleine Ateliers ausgebildet sind, die den Wohnungen des ersten Obergeschoßes zugeschlagen werden können. Die Wendeltreppen nach oben befinden sich in Vorräumen, die komplett abgetrennt oder Teil der Hauptwohnung sein können. Falls die kleine Atelierwohnung für die ältere Generation gedacht ist, muss sie aber rüstig genug zum Treppensteigen sein: Die Aufzüge in Krischanitz' Bauteil führen nur auf die zweite Ebene.

Dieses Problem hat Hermann Czech, der Komfort in der Architektur nie als anrüchigen Begriff betrachtet hat, anders gelöst. Seine Kleinwohnungen liegen zwar auch im dritten Stock, sind aber über einen per Lift erreichbaren Laubengang erschlossen. Auch hier gibt es, ähnlich wie bei Krischanitz, eine Kombinationsmöglichkeit zwischen dem zweiten und dritten Geschoß, während auf ebener Erde quasi normale Wohnungen angeboten werden.

„Normal“ ist Czechs Wohnbau allerdings überhaupt nicht, auch wenn sich das erst bei genauerer Analyse zeigt. Im Schnitt erkennt man die Verschränkung zwischen Räumen unterschiedlicher Höhe, einem Wohnraum mit 4,05 Metern und Nebenräumen, die das Minimum von 2,5 Meter Höhe aufweisen. Die hohen Wohnräume können von den Bewohnern selbst umgestaltet werden, indem etwa eine Empore mit einem Arbeitsplatz eingezogen wird. Seit der Besiedlung haben die Bewohner schon vielfach von dieser Option Gebrauch gemacht, und kaum eine der Wohnungen gleicht heute noch den Fotos, die nach der Fertigstellung gemacht wurden. Räume mit dieser Höhe und entsprechend großformatigen Verglasungen haben eine besondere Atmosphäre, die durch die Komposition der Treppe noch gesteigert wird. Werner Neuwirth hat in seinen sechs jeweils aus unabhängigen „Häusern“ zusammengesetzten Baukörpern das Konzept der „Einliegerwohnung“ insofern überwunden, als er die Hierarchie zwischen Haupt- und Nebenwohnung komplett auflöst. Durch einen Knotenpunkt im Zentrum jedes Baukörpers lassen sich die Geschoßebenen sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Hinsicht frei zusammenschalten, wodurch Wohntypen möglich werden, die auch ohne großen Aufwand neu kombiniert werden können.

Wichtig für die räumliche Wirkung von Neuwirths Entwurf nach außen sind die unterschiedlichen Seitenlängen der Quadrate, aus denen die Baukörper im Grundriss zusammengesetzt sind. Sie erzeugen durch leichte Vor- und Rücksprünge eine gestalterische Varianz ohne funktionale Begründung, ein Prinzip, das auch Adolf Krischanitz in seinen Projekten gern anwendet. Der Rationalismus seiner Architektur lässt sich am besten mit der Definition beschreiben, die Adolf Behne 1923 gegeben hat: „Während der Funktionalist das Haus zum Werkzeug machen will, sieht es der Rationalist (was nur zunächst überrascht) mit der gleichen Bestimmtheit als Spielzeug.“

Die spielerische Grammatik der Bauteile von Neuwirth und Krischanitz sind offensichtlich verwandt und lassen einen Außenraum entstehen, in dem die Grenzen zwischen öffentlichem und halb öffentlichem Raum nicht leicht zu finden sind. Die Freiraumplanung von Anna Detzlhofer vermeidet es, diese Grenzen durch gärtnerische Gestaltung festzulegen. Im ersten Jahr der Besiedlung beginnen die Bewohner vorsichtig, ihre Claims im Freiraum abzustecken.

Eine besonders raffinierte Versuchsanlage zu diesem Thema hat Hermann Czech für seinen Bauteil entwickelt, der den Bewohnern beider Hauptgeschoße Eigengärten anbietet. Für die Erdgeschoßwohnungen liegen diese Gärten an der Westseite, für die oberen Wohnungen an der Ostseite, wo sich auch die Erschließungstreppen für diese Wohnungen befinden. Damit die erdgeschoßigen Wohnungen nicht direkt an den Eigengarten der oberen grenzen, ist ihnen ein schmaler Distanzstreifen vorgelagert, der über eine Art Stichweg mit der Straße verbunden ist. Durch diese Lösung sind an der Ostseite des Hauses die Freiräume der Bewohner eng miteinander verschränkt. Das fördert das nachbarliche Gespräch, birgt aber auch Konfliktpotenzial.

Ob diese Lösung in einem Wildwuchs von Schilfwänden enden wird oder in einem entspannten Miteinander, wird sich zeigen. Der städtebauliche Masterplan von Henke und Schreieck hatte hier eine dichte Bebauung mit privaten Höfen nach dem Vorbild von Roland Rainers Siedlung in Puchenau bei Linz vorgeschlagen, intime Höfe, in denen man aber gerade als älterer Bewohner leicht vereinsamen kann. Dass Czech sein Projekt als „Wildweststadt“ bezeichnet, liegt nicht nur am Fassadenmaterial, sondern auch an dieser besonderen Exponiertheit, die sich am ehesten Pioniere leisten können: im Wilden Westen wie in Stadlau. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2012)

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