Die Würde ist antastbar

Ist der Islam mit den Menschenrechten vereinbar? Das ist die Messlatte, die Nina Scholz und Heiko Heinisch für die Inte-gration von muslimischen Migranten in Europa anlegen. Ein Kulturkampf?

Die Diskussionen um den Islam erinnern in hohem Maß an die historischen religiösen und politischen Glaubenskämpfe in Europa. Mit der Säkularisierung und dem Untergang der letzten politischen Religion – des Kommunismus – schien sich die Idee des liberalen Rechtsstaates endgültig durchgesetzt zu haben. Einige politische Theoretiker wie Francis Fukuyama schwadronierten voreilig vom „Ende der Geschichte“ und prognostizierten den weltweiten Siegeszug der Demokratie und des Individualismus. Der demokratische Freudentaumel währte nicht lange: Spätestens mit dem Anschlag am 11. September 2001 auf das Wahrzeichen der westlichen Moderne – das World Trade Center – bedrohte ein neues Gespenst die Welt: der islamische Terrorismus. Dieser perfide Akt wurde zwar in der westlichen Welt mehr oder weniger einhellig verurteilt, doch entbrannte eine Diskussion um den Islam. Konservative Kritiker des Islam wie Samuel Huntington sahen sich in ihrer Einschätzung eines bevorstehenden „Clash of Civilizations“ bestätigt, während die Befürworter des Multikulturalismus klar zwischen einem friedfertigen Islam und einem illegitimen Terrorismus etlicher Muslime unterschieden.

In Europa scheiden sich heute die Geister in der Einschätzung, ob der Islam mit den Errungenschaften der liberalen Demokratie und des Individualismus zu vereinbaren sei. Die Kombattanten palavern mit meist gar keinen beziehungsweise mit wenigen Kenntnissen über die islamischen Religionsgemeinschaften und beschuldigen sich gegenseitig einer einseitigen und verzerrten Darstellung des Islam.

In dieser Situation schlagen die Autoren Nina Scholz und Heiko Heinisch einen außerordentlich sinnvollen Paradigmenwechsel in der Diskussion um den Islam vor: Sie messen den Islam in der Theorie – sprich seinen heiligen Schriften – und in der politischen respektive gesellschaftlichen Praxis an den Menschenrechten. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, dass die Menschenrechte die umfassende Grundlage unserer demokratischen Rechtsordnungen darstellen. Die Europäer dürfen von allen Migranten, Ethnien und Religionsgemeinschaften, die sich hier niederlassen, verlangen, dass deren Werte mit den Menschenrechten vereinbar sein müssen.

Der Rekurs auf die Menschenrechte impliziert die Unvereinbarkeit von Kollektivismus und Individualismus, das heißt, liberale Rechtsordnungen gehen von den Rechten und Pflichten des Einzelnen aus, während kollektive Privilegien oder Diskriminierungen nur undemokratische bzw. fragwürdige politische Ordnungen kennen. Die Kompatibilität politischer, gesellschaftlicher und religiöser Vorstellungen und Werte mit den Menschenrechten sind gleichsam die Messlatte für die Integration von Migranten. Mit diesem Ansatz verschiebt sich der Blickwinkel der Betrachtung der Konfliktlinien: Alle strittigen Fragen in der Auseinandersetzung mit dem Islam werden unter der Generalklausel der Vereinbarkeit mit den Menschenrechten beziehungsweise den bürgerlichen Grundrechten untersucht.

Die Autoren gliedern ihr Buch in 16 Kapitel, in denen zentrale Begriffe der Integrationsdebatte kenntnisreich thematisiert werden. Dabei werden die islamischen Definitionen von Toleranz, Religions- und Meinungsfreiheit oder Ehre und Gewalt und ihre gesellschaftliche Praxis in islamischen Ländern kritisch erörtert. Die Frage nach der Vereinbarkeit von islamischem Recht – der Scharia – und der prinzipiellen Rechtsgleichheit aller Menschen in säkularen liberalen Rechtsordnungen wird ebenso thematisiert wie die unendlichen Diskussionen um das leidige Kopftuch oder um die Mohammed-Karikaturen.

Scholz und Heinisch greifen auch die umstrittene Frage des Jihad auf, also die Pflicht der Muslime zur gewaltsamen oder friedlichen territorialen Eroberung nicht islamischer Länder, und kommen zu der Erkenntnis, dass sich die meisten muslimischen Organisationen um eine offene und klare Stellungnahme drücken. Ebenso fragwürdig ist die Einstellung vieler muslimischer Verbände und aller islamischen Staaten hinsichtlich der Menschenrechte selbst: „Der Islam hat nie eine Philosophie entwickelt, die den Willen und die Freiheit des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt. Eine allen Menschen gleiche, angeborene Würde blieb ihm fremd.“ Mit Bedauern stellen die Autoren darüber hinaus fest, dass die islamische Philosophie keine dem Westen vergleichbare Aufklärung entwickelt habe, sie habe „vielmehr bereits jene Voraussetzung nicht entwickelt, die in Europa erst den Weg in die Aufklärung ebnete“.

Die 1990 von den Mitgliedern der Organisationen der Islamischen Konferenz (OIC) verabschiedete Kairoer Erklärung der Menschenrechte, die vorgibt, die Scharia und die allgemeinen Menschenrechte zu verbinden, stößt auf die Ablehnung der beiden Autoren. Sie kommentieren trocken: „Islamische Menschenrechte sind ebenso unsinnig wie christliche, buddhistische, deutsche oder japanische.“

Das Buch von Nina Scholz und Heiko Heinisch besticht durch eine durchgängige Sachlichkeit und zeugt von hoher wissenschaftlicher Kompetenz. Für aufklärungswillige Bürger stellt dieses hervorragende Buch eine Pflichtlektüre dar. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2012)

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