Nur keine Kontakte

In ihrem Roman „Nullzeit“ lässt Juli Zeh zwei Pärchen in Turbulenzen geraten. Selbst im Urlaub auf einer schönen Insel kann manchem die Luft ausgehen. Eine Sommerlektüre.

Adler und Engel“, Juli Zehs Romandebüt von 2001, bezeichnete ein Kritiker als „Hardcore-Politstory“ mit eingebauter „Hardcore-Beziehungsgeschichte“. Ihren jüngsten Roman, „Nullzeit“, könnte man in Analogie dazu als Hardcore-Affäre mit Krimitouch beschreiben, bei dem gesellschaftspolitische Befunde allenfalls über die Bande gespielt werden.

„Nullzeit“ definiert die Anzahl von Minuten, die ein Mensch unter Wasser verbringen kann, und mit diesem Terminus der Taucherzunft verweist der Titel auf das Ambiente des Romans. Sven Fiedler hat sich vor mehr als einem Jahrzehnt auf die spanische Kanareninsel Lanzarote zurückgezogen und hier gemeinsam mit seiner Freundin Antje eine gut funktionierende Tauchschule aufgebaut. Als das eher schrille Fernsehstarlet Jola mit Freund Theo zu einem 14-tägigen Tauchkurs eintrifft, gerät das beschauliche Setting erwartungsgemäß aus dem Lot. Aus solchen Stoffen sind Urlaubslektüren ohne besonderen Tiefgang gemacht, und dazu passt auch der durchaus originelle Gag, mit dem Juli Zeh einen so sorgsam wie hinterhältig geplanten Mordversuch inszeniert.

Interessanter ist das Spiel mit den Widersprüchen zwischen den Ereignissen, wie Sven sie im Rückblick niederschreibt, und den darunter erkennbaren Konturen der tatsächlichen Abläufe samt Psychogrammen der Akteure, die freilich zum Teil überraschend klischeehaft wirken. Insbesondere Jola, hysterisch überdreht, gefühlskalt und berechnend, dabei natürlich in allen Lebenslagen betörend schön, würde jedem Trivialroman Ehre machen. Bisher hat ihr freilich weder ihr Aussehen noch das Glamour-Ambiente ihres einflussreichen Produzenten-Vaters zum Durchbruch verholfen. Als letzte Chance bereitet sie sich nun auf das Casting für eine erste Filmrolle vor – als Lotte Haas, das „Mädchen auf dem Meeresgrund“. Ihr Freund Theo scheint ein literarisch wie sexuell zunehmend impotenter Schriftsteller zu sein, zumindest sieht das Jola so, die ihn hartnäckig mit „Alter“ tituliert.

Doch eigentlich ist er mit seinen 42 Jahren gerade einmal zwei Jahre älter als Sven, den Jola mit viel Geduld und erotischem Aufwand zu umgarnen trachtet. So beschreibt es jedenfalls Sven. Für Jola wie Theo, die in einer zunehmend ins Sadomasochistische abgleitenden Beziehung verstrickt sind, gibt Sven einen nützlichen, weil dank seiner fehlenden Empathie leicht instrumentalisierbaren Dritten ab. Wer dann gegen wen einen Mordplan ausheckt, sei hier nicht verraten, und ob die eingespielten Passagen aus Jolas Tagebuch der Realität näher kommen als Svens Bericht, bleibt offen.

Dass Sven von den Vorgängen wenig begreift, entspricht durchaus seinem Charakter. Er ist der einsame Wolf, der sich nur in der menschenfernen Stummheit der Unterwasserwelt wohlfühlt. An Land, wo eine Handvoll Gesten zur Verständigung meist nicht ausreicht, interessiert ihn eigentlich nichts – und vor allem niemand. Auch Antje nicht, die alle Sozialkontakte und Alltagsfragen für ihn organisiert. Wo ihre sozialen Fähigkeiten über das für ihn Nützliche hinausgehen oder sie gar emotionale Reaktionen von ihm einfordert, weist er das als Anmaßung schroff zurück. „Jetzt kam also der Teil, in dem sie weibliche Intuition für sich in Anspruch nahm, um nicht von konkreten Tatsachen abhängig zu sein“, lautet seine gängige Interpretation dazu. Als ihn Antje dann verlässt, kennt er nach 14 gemeinsam verbrachten Jahren keine einzige Adresse, an der er sie suchen könnte, weder von ihrer Familie in Deutschland noch von ihren Freunden auf der Insel. Seine Lebensmaxime des Sichheraushaltens verfolgt Sven tatsächlich konsequent, dahinter steht freilich nicht Wertschätzung für seine Mitmenschen, wie er vorgibt, sondern pures Desinteresse. Dass er am entscheidenden Punkt der Krimihandlung seinem Grundsatz zuwiderhandelt, erstaunt ihn dann selbst.

Zu solchen Charakteren gehört idealtypisch ein mit der Wirklichkeit wenig kongruentes Selbstbild – so auch hier. Er habe Deutschland verlassen, um der Omnipräsenz des Be- und Verurteilens zu entkommen. Diese Erklärung hat sich Sven zurechtgelegt, obwohl er selbst mit seinen simplifizierenden Kategorienrastern das Geschäft des Urteilens besonders unsensibel betreibt, etwa mit der finalen Punzierung neuer Tauchgäste bei deren Ankunft, je nachdem, ob sie die karge Insellandschaft enthusiastisch oder enttäuscht kommentieren. Der unmittelbare Auslöser für seine Auswanderung war ein Erlebnis bei einer Staatsprüfung, bei der ein älterer Prüfer dem strebsamen Jusstudenten eine Lektion in Sachen Menschenbildung erteilt und ihm keinen Lernstoff abverlangt, sondern Allgemeinwissen. Damit hat er Sven zwar beschämt, ohne aber die Prüfung platzen zu lassen. Trotzdem bastelt der daraus seinen Aussteigermythos. Freilich, heutzutage googeln auch Inselaussteiger und lassen sich durchaus beeindrucken von ein paar hunderttausend Einträgen zur Serienheldin Jola.

„Die Bougainvilleen warfen ihre Farbkaskaden über die Mauern, die Blütenpracht brannte ein Loch in die karge Umgebung.“ So lässt Juli Zeh Sven zu Beginn etwas unbeholfen das von Antje der Natur abgerungene Idyll ihres gemeinsamen Refugiums beschreiben. Am Ende hat er es verloren und kehrt nach Deutschland zurück, nicht freiwillig, aber so ganz freiwillig ist er letztlich auch nicht hier gelandet. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2012)

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