Durchs Leben schlagen

„Des Menschen Herz“: Egon Christian Leitner verhandelt in seinem „Sozialstaatsroman“ existenzielle Themen wie Selbstmorde in seinem Umfeld und die eigene Gefährdung. Ein Roman von großer sprachlicher Intensität, in der Tradition eines Franz Innerhofer oder Werner Schwab.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) hat mit einem Forschungsteam im Jahre 1993 die Studie „Le Misére du Monde“ (1997 in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Das Elend der Welt“ im Universitätsverlag Konstanz erschienen) veröffentlicht. Auf der Basis von über 40 ausführlichen Interviews und Gesprächen mit Menschen, die sich auf den Schattenseiten der französischen Gesellschaft befinden, wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen der Gewalttätigkeit, die die Individuen im Alltag erleben und erleiden müssen, und dem gesamtgesellschaftlichen Kontext, in dem durch die Durchsetzung des Neoliberalismus und die politische Ohnmacht der Linken eine „Verdrittweltlichung“ der Gesellschaft eintritt und die Grundlagen von Sozialstaat und Demokratie ausgehöhlt und zerstört werden.

Der 1961 in Graz geborene Autor Egon Christian Leitner, der Philosophie und Klassischen Philologie studiert, dann in der Kranken- und Altenpflege sowie als Flüchtlingshelfer gearbeitet hat, ist ein durch Buchveröffentlichungen und Essays ausgewiesener Kenner des Werkes und des Denkens von Pierre Bourdieu. Er hat nun nach beinahe zehnjähriger Arbeit einen umfangreichen Roman vorgelegt, in dem er ein äußerst düstereres Pandämonium von eigenen schmerzvollen Erfahrungen als Kind, als Schüler, in seiner Berufstätigkeit als Sozialarbeiter und als politisch Engagierter im Bereich der Entwicklungspolitik mit der einfühlsamen Erzählung von Alltagssituationen und Lebensgeschichten von „kleinen Leuten“ verbindet.

Es geht ihm ähnlich wie Bourdieu in seinem Buch über das „Elend der Welt“, wie er in den seinem Roman angefügten Tagebüchern aus den Jahren 2004 bis 2011 ausführt, darum, dass „Menschen anfangen, einander respektvoll ihre Leben zu erzählen, und dass so das Leben anfängt zu zählen, und dass so aus jedem dieser hassfrei erzählten Leben ein politisches Argument zu werden vermag“ (Tagebücher, S.402). Ein solches Schreiben und Erzählen, das nicht nur vom Mitleiden, sondern von tiefem Respekt geprägt und getragen ist, kann zu einem wichtigen Teil und Ansatzpunkt einer politischen Bewegung zum Schutz von Demokratie und humanen Lebensbedingungen werden.

Egon Christian Leitner betitelt seinen Roman „Sozialstaatsroman“, wobei dieser Begriff für die Chiffre einer Gesellschaft steht, in der die Menschen wieder ermächtigt werden, ein wahres Leben anstatt ein „Wegwerfleben“ (Bourdieu) zu führen, und „es in Notsituationen nicht dazu kommt, dass den einen geholfen wird und den anderen nicht“ (Tagebücher, S. 523).

Im Mittelpunkt des ersten Teiles des zweibändigen Romans steht das „gekreuzigte Kind“, das von einem brutalen Vater einem jahrelangen, unvorstellbaren Martyrium von körperlicher und verbaler Gewalt ausgesetzt wird. Das Kind kann auch durch seine Mutter nicht wirklich geschützt werden. Es findet nur im Großvater und in seiner Tante und ihrem Mann mitfühlende Menschen vor, die aber auch nicht imstande sind einzugreifen, dem Kind zu helfen und dem Vater in den Arm zu fallen. Und die Umwelt schaut mit ganz seltenen Ausnahmen einfach weg, deckt den Vater, der ein angesehener Bürger und Beamter in der Militärverwaltung ist.

„Ich weiß von keinem Menschen, dem auf Erden nicht zu helfen ist“

Der Vater wird in seiner ganzen Ambivalenz sowohl als Gewalttäter als auch als schwacher und verzweifelter Mensch gezeichnet: „Er musste sich durchs Leben schlagen, mich auch.“ Der Autor arbeitet hier mit dem Stilmittel von ins Äußerste gesteigerten negativen Übertreibungen und Beschreibungen in der Form von fieberhaften Phantasmagorien – es ist ja kaum vorstellbar, dass ein Kind die beschriebenen stunden- und tagelang erlittenen furchtbaren Martern ohne schwerste körperliche Schäden überleben könnte –, die dann mit banal und positiv klingenden Sentenzen („Die Menschen sind gut“, „Ich weiß von keinem Menschen, dem auf Erden nicht zu helfen ist“) noch weiter ins Groteske und Höllenhafte verzerrt werden.

Ähnlich verfährt der Autor im zweiten großen thematischen Schwerpunkt des Romans, der das Sterben der Mutter und die schwere Krankheit der Tante behandelt. Über mehr als 100 Druckseiten werden hier das Leiden der beiden Frauen, die Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen durch die Ärzte und die Abgestumpftheit und Insensibilität des Pflegepersonals im Spital beschrieben. Die immer wiederkehrenden, ins Monotone abdriftenden Wiederholungen werden, wie in der Darstellung der Kindesmisshandlungen im ersten Teil des Romans, durch eingestreute harmonisierende Gemeinplätze und völlig kontrafaktische Lobgesänge auf die Ärzte und das Pflegepersonal ins Absurde gesteigert.

Egon Christian Leitner setzt diese Dissonanzen bewusst: „Es schläft ja wirklich ein Lied in allen Dingen, aber ich zum Beispiel treffe nie den richtigen Ton. Ich glaube aber, dass genau das meine Pflicht ist. Das Absurde. Der falsche Ton. Die Taktlosigkeit“ (Tagebücher, S.69). In vielen Passagen läuft hier der Text Gefahr, an Überzeugungskraft und literarischer Qualität einzubüßen, zu einer Art von „Leidensliteratur“ zu werden, bei der es – wie der Literaturkritiker und Filmemacher Peter Lämmle in einer Besprechung eines Romans von Gerhard Roth prägnant formuliert hat – „den Autoren mehr um das Herausschreien ihres Schmerzes geht, je unartikulierter, je besser“ (veröffentlicht in dem Band „Die Grazer erobern die Literatur“, herausgegeben von Jörg Drews und Peter Lämmle, Edition Text+Kritik, München, 1975). Und es stellt sich hier natürlich auch die Frage der Authentizität und der Fiktionalität der zweifellos stark autobiografisch geprägten Darstellung, deren Realitätshaltigkeit der Autor in seinem Denk- und Werktagebuch bewusst offenlässt („Und es sei eben ein Roman. Ich komme auch darin in Wirklichkeit nicht vor“, Tagebücher, S. 601).

Der Roman von Egon Christian Leitner behandelt in großer inhaltlicher und sprachlicher Intensität eine Fülle von weiteren existenziellen Themen wie die Selbstmorde in seinem näheren Umfeld und die eigene Gefährdung in dieser Frage von Leben und Tod, die Helferproblematik im Bereich von Sozialarbeit und Flüchtlingsbetreuung, die Konflikte mit Funktionsträgern in karitativen Organisationen und anderen mehr.

Ein Bereich, in dem der Autor das eingesetzte Stilmittel der Zuspitzung von Personen- und Situationsbeschreibung durch Übertreibung und eine ins Selbstquälerische gehende Aufrichtigkeit besonders eindrucksvoll umsetzt, betrifft die Schule und die Rolle der Lehrer. Viele der Szenen aus Volksschule, Gymnasium und dann an der Universität haben bei aller tragischen Düsterkeit in der Darstellung der repressiven Grundstrukturen des Schulsystems, in der den Kindern und Jugendlichen der Mut ausgetrieben wird, im Leben die Kraft aufzubringen, eigene Meinungen zu entwickeln, selbstständig zu werden, und der charakterlichen Defizite, der „Zwergwüchsigkeit“ des Lehrpersonals auch zuweilen einen ironischen, beinahe unterhaltsamen Ton.

Und es gibt vor allem auch Lehrerpersönlichkeiten, die die rigiden Muster von Ein- und Aussperrung der ihnen anvertrauten Schüler durch eine schlichte, nicht aufgesetzte Menschlichkeit durchbrechen. So bewahrt der Klassenvorstand seiner ersten Gymnasialklasse die Hauptfigur des Romans vor einem weiteren wahrscheinlich letalen Selbstmordversuch: „Ich weiß aber nicht mehr, wie der Lehrer mir geholfen hat. Es kann sein, allein dadurch, dass da jemand war, der nett war. Er ging nicht gegen mich vor. Ließ sich durch nichts und niemanden dazu bringen“ (Band I, S. 35).

Egon Christian Leitner ist mit seinen bisherigen Veröffentlichungen, seinem „Sozialstaatsroman“ und den mit dem Roman publizierten Tagebüchern, die eindrucksvolle sozial- und kulturwissenschaftliche Bildung ausweisen, ein Vertreter der in Graz keineswegs seltenen Spezies der Dichter-Soziologen und Soziologen-Dichter wie Franz Innerhofer, Gunter Falk, Jörg Zillian oder Werner Schwab, allesamt tragisch oder viel zu früh verstorben.

In der Breite und der Schärfe der Reflexionen über das eigene Leid und über das Schreiben, über traditionelle und alternative Politik und Gewerkschaften, mit dem aufblitzenden Sprachwitz und originellen Nonsens-Sätzen (zu den „Zukunftsdenkern“: „Horx statt Marx ist nur Murks“, Tagebücher, S.427) lebt die Kreativität und Widerständigkeit der „Lokal-Kultur“ der Stadt – „lokal“ im Sinne Bourdieus als Gegenbewegung gegen die „Logik der Global-Regel und des Global-Reglements“. In den Referaten und Vorträgen, die in den Tagebuchband aufgenommen wurden, lenkt der Autor seinen scharfen kritischen Blick auf die Fehlentwicklungen in Politik und Gesellschaft und stellt mit der Behandlung einer Fülle von Themen seine umfassende philosophisch-sozialwissenschaftliche und klassisch-philologische Bildung unter Beweis.

Ob angesichts dieser mehr als 600 Seiten umfassenden Werk- und Denktagebücher eine entschiedene kritische Lektorierung in Richtung einer deutlichen Kürzung dieser Überlänge nicht doch sinnvoller gewesen wäre? Besonders ermüdend ist hier die Lektüre der weit über 100 Tagebucheintragungen, in denen sich Egon Christian Leitner an dem opportunistischen Geschäftsführer einer großen Grazer Hilfsorganisation abarbeitet.

„Alles, was das Werk aufhält, gehört zum Werk“, Albert Camus

Der Autor führt, um zu verteidigen und zu begründen, dass sich sein Text so ausgewachsen hätte, ein Wort von Albert Camus an: „Alles, was das Werk aufhält, gehört zum Werk.“ Apropos Camus: Adolf Holl hat in einer knappen, einfühlsamen Skizze zu Autor und Werk, die als eine Art Nachwort der dreibändigen Edition beigeschlossen ist, den Roman von Egon Christian Leitner als „Solitär unter den Schmuckstücken der Schriftstellerei“ belobigt.

Eine der letzten Novellen von Albert Camus handelt nun von einem erfolgreichen Modemaler, der, um durch den Trubel der ihn hofierenden Gesellschaft nicht in seinem Schaffen gestört und abgelenkt zu werden, sich in einen abgelegenen, nur für ihn erreichbaren Raum seines Hauses zurückzieht. Man findet ihn dann dort tot auf, vor einer leeren Leinwand, auf der sich nur ein nicht eindeutig entzifferbares Wort, das sowohl „solitaire“ als auch „solidaire“ bedeuten kann, findet.

Dieses begriffliche Gegensatzpaar charakterisiert auch die Stärke und die dichterische Kraft des vorliegenden Opus magnum von Egon Christian Leitner: die verzweifelte Einsamkeit als Folge einer individuellen Aussichts- und Hilflosigkeit, aber auch eine rebellische und solidarische Einsamkeit, die mutig die Mächtigen und die Machtstrukturen angreift und von einer Sicherheit und einem „Gespür“ getragen ist, „ein inneres Leben zu haben und nicht bloß Spiegel unter Spiegeln zu sein“ (Tagebücher, S. 97). ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2012)

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