Die Demokratie von Jessica und Kevin

Christian Ortners Angriff auf die „Realverfassung“ Österreichs. Die neoliberal inspirierten Kommentare des Christian Ortner zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft polarisieren; das macht ihm offenkundig Spaß.

Die neoliberal inspirierten Kommentare des Christian Ortner zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft polarisieren; das macht ihm offenkundig Spaß. Selbst wenn er unermüdlich den Zusammenhang zwischen der österreichischen Staatsverschuldung, überzogenen Erwartungen von Interessenvertretern und der enormen fiskalischen Belastung thematisiert, dann tut er es mit viel Humor. Den findet man auch in seinem Buch, in dem allerdings das Wutbürgertum dominiert.

Das Buch heißt „Prolokratie“, ein hässliches Wort, das einen Teil der Bevölkerung heruntermacht und auch nicht stimmt: „Proles“, das sind ursprünglich die, die über eine zahlreiche Nachkommenschaft verfügen – Österreich laboriert aber eher unter zu wenig Nachwuchs. Ortner hat sich wohl von Francis Gilberts „Yob Nation“, auf Deutsch etwa „Proll-Nation“, inspirieren lassen. Gilberts These von 2006 war, dass Missstände der englischen Gesellschaft – etwa Jugendkriminalität, Komasaufen oder die Regenbogenpresse – einen neuen, bis in die Elite reichenden gesellschaftlichen Habitus geschaffen hätten. Da gibt es eine Schnittfläche mit Ortner, der fragt, ob die Demokratie als Regierungsform angesichts der dominierenden „Prolos“ funktional ist. Seine Kunstfiguren sind „Jessica“ und „Kevin“, ungebildet, mit geringer Leistungsbereitschaft, aber sonst recht anspruchsvoll. Da sie wahlberechtigt sind, tun Politiker gut daran, es sich nicht mit ihnen zu verderben, sonst droht Abwahl. Es gibt also eine unheilvolle Allianz zwischen der Politik und den beiden. In den Wahlkämpfen überbieten sich Politiker mit Bestechungsanboten, die auf Pump oder durch Belastung der Leistungsträger finanziert werden. Am Ende – ein schönes Zitat von Ludwig von Mises – steht ein Großteil der Bevölkerung auf der öffentlichen Gehaltsliste. Gesunde Staatsfinanzen und Demokratie sind kaum kompatibel, der Staatsbankrott ist der Demokratie also inhärent.

Ja, die bloß rechnerische Mehrheit hat nicht immer recht, und ja, das kann einen ärgern, wenn die Mehrheit über das Vermögen der Minderheit wirtschaftlich unvernünftig entscheidet, und ja, Demokratie und Wohlstand sind nicht zwingend miteinander verbunden. Demokratien schwächen gelegentlich wirtschaftsdynamische Individuen, lassen sie aber wenigstens am Leben und sperren sie nicht ein.

Das führt zu der von Ortner idealisierten Volksrepublik China: Ist dieses autoritäre Land mit seiner Wirtschaftslenkung wirklich „wohlhabend“ geworden, wie Ortner meint, oder orientiert er sich da nur an Wachstumszahlen und fragwürdigen Karrieren politischer Günstlinge und ignoriert die massive öffentliche Armut? Wie kommt er zu der Vermutung, dass diese Diktatur „durch eine relativ hohe Zufriedenheit der Bevölkerung“ legitimiert sei, die den wirtschaftlichen Erfolg mit einer gewissen Duldsamkeit honoriert? Vor allem: Sind sture und korrupte Parteifunktionäre, die den Massen einfach das Internet abdrehen, nicht gefährlicher als Jessica und Kevin und ihr elementares Defizit an Kulturtechniken?

Meint Ortner das ernst, dass wir eine „ehemals demokratische Gesellschaft“ seien? Wann war das? In der Großen Koalition mit CV und BSA und einer ab etwa 1960 unsinnigen verstaatlichten Industrie, deren Schulden heute noch das Budget belasten? Seine Alternativen – etwa Entschlackung des Staates, ein unabhängiger Weisenrat mit Eingriffsrecht, der sich aus sich selbst rekrutiert –sollen hier nicht diskutiert werden, weil er Jessica und Kevin so indolent gezeichnet hat, dass sie dem nie zustimmen werden – außer vielleicht im Kontext seiner letzten Option: der reinigenden Krise. Aber ist das nicht eher ein konservativer Ansatz? ■





Christian Ortner
Prolokratie
Demokratisch in die Pleite. 92S., geb., €14,90 (Edition a, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2012)

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