Alles sehen, hören, riechen

Von seiner Hinwendung zu Wien hat Hermann Lenz nach dem Krieg oft berichtet. Seine Erfahrungen als Frontsoldat schrieb er in „Neue Zeit“ nieder. Zwei Neuausgaben zum 100. Geburtstag des schwäbischen Dichters.

Im Jahr 1957 besucht der damals 44-jährige Hermann Lenz seinen Kollegen Herbert Eisenreich in Wien. Er ist zum ersten Mal dort; man spricht über dies und jenes und beschließt, zum Kornhäuselturm zu gehen, von dem aus Adalbert Stifter 1842 die totale Sonnenfinsternis beobachtet hat. Eisenreich will denschwäbischen Gast durch die Gassen Wiens geleiten, doch dieser macht seinen verblüfften Cicerone darauf aufmerksam, dass es vielleicht kürzer wäre, sich dem Turm über die Rotenturmstraße zu nähern.

Physisch war Hermann Lenz 1957 erstmals in Wien, doch mit dem Kopf hatte er die Stadt bereits 20 Jahre lang durchwandert und sich das Labyrinth der Straßenecken und Plätze genau eingeprägt. Als Gegner des Nationalsozialismus schuf sich der Studentin den 1930er-Jahren eine Gegenwelt, die es ihm erlaubte, sich vor der verhassten Gegenwart zu schützen und (ästhetische) Überlebensstrategien zu entwickeln. Er ist vom Fin de Siècle, von Hofmannsthal, Schnitzler und Beer-Hofmann fasziniert und beginnt in seinen ersten Arbeiten, der mehrfach überarbeiteten Erzählung „Das stille Haus“ (1938/ 1947), sich eine Wunschbiografie zu erschreiben, angesiedelt natürlich in der Zeit derWiener Jahrhundertwende.

Hermann Lenz hat von dieser Hinwendung zu Wien, die vorschnell von manchen als Eskapismus denunziert wurde, oft berichtet. Wie notwendig sie war, lässt sich am eindringlichsten in „Neue Zeit“ nachlesen, dem Ende der Sechzigerjahre entstandenen, 1975 erschienenen dritten Teil seiner neunbändigen Autobiografie in Romanform.

Aus Anlass von Lenz' 100.Geburtstag (am 26.Februar) liegt er nun in einer Neuausgabe vor, die zeigt, warum dieser Roman zu den bedeutendsten deutschsprachigen Büchern über den Zweiten Weltkrieg zählt. Die erzählte Zeit umfasst die Jahre 1937 bis 1946. Lenz' autobiografisches Alter Ego, Eugen Rapp, erkennt früh, dass Hitlers Politik auf eine Katastrophe zusteuert. Seine Promotionspläne verfolgt er nur halbherzig, undals er eingezogen wird, geht es – in Frankreich, dann in Russland, zuletzt als Kriegsgefangener in Montana – für ihn ums nackte Überleben. „Wenn du nur durchkommst“ wird sein banges Motto, das durch die Lektüre Marc Aurels unterfüttert wird.

„Neue Zeit“ ist der ungeschminkte Bericht eines Frontsoldaten, der kein Held sein will und in den Sümpfen Russlands nach Wegen sucht, innerlich und äußerlich unbeschadet durch die Jahre zu schlüpfen. Er beginnt, den Soldatenalltag minuziös zu beobachten: „Alles sehen, alles hören, alles riechen, was sich dir hier zeigt.“ Dieser Blickwinkel macht aus „Neue Zeit“ (der Titel ironisiert das Aufbruchspathos der Nationalsozialisten) eine dichte Folge von Einzelszenen, die den Krieg in seinem banalen Schrecken zeigt. Im Unterstand auf die nächsten Gefechte wartend, beugt sich Rapp über sein „Gekritzel“ und beschreibt Szenen, die dem „Sumpfkrieger“ die Illusion verschaffen, es gebe eine andere, unbeschädigte Welt.

Gleichzeitig belastet Eugen die Angst um seine Freundin und spätere Frau Hanne. 1937 lernen sich die beiden im Kunsthistorischen Seminar der Münchener Universität kennen. Bei aller Anziehung heißt es zuerst, die Anschauungen des anderen vorsichtig auszuloten. Als Eugen erfährt, dass Hanne als sogenannte Halbjüdin gilt, empfindet er nachgerade Erleichterung und macht sich daran, einen jähzornigen Kontrahenten, hinter dem sich kein anderer als der spätere bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß verbirgt, auszustechen. Mit einer geliehenen Pistole im Jackett will er sich vor dem aufbrausenden Kommilitonen schützen. Je länger der Krieg dauert, desto größer die Furcht, dass Hanne, die verpflichtet wird, Straßenbahnen zu reinigen, in ein Konzentrationslager kommt. Doch beide überleben den Krieg, und beide werden dessen Lehren nie vergessen.

Der Anhang der Neuausgabe enthält auf rund 30 Seiten Auszüge aus der bisher unveröffentlichten Korrespondenz zwischen Hermann und Hanne Lenz. Sie zeigen zwei höchst eigenständige Briefeschreiber, die sich kein Blatt vor den Mund nehmen. Man tauscht sich über Literatur, Hermanns Prosaversuche, den „Schwindel“ der Kriegsverherrlichung und die Bombenangriffe auf München aus, die zum Entsetzen des Paares Thomas Manns Wohnhaus zerstören. Und sie zeigen Lenz als einfallsreichen Liebenden, der seine latente, durch die Distanz geförderte Eifersucht auf aparte Weise rhetorisch ironisiert. Peter Hamm hat die Auswahl dieser Briefe besorgt. Auf eine Kommentierung wurde verzichtet; die nicht immer konsequenten Streichungen, die rätselhafterweise auch die Kosenamen der Liebenden betreffen, werden nicht begründet. „Neue Zeit“ war, vermittelt durch Peter Handke, das erste Buch Lenz' im Hause Suhrkamp. Dass man es dort zum Geburtstagsjubiläum seines Büchner-Preisträgers nicht für nötig hält, der Neuausgabe des Romans ein Nachwort hinzuzufügen, ist unerklärlich, ja beschämend.

Ganz anders geht der kleine, feine Ulrich-Keicher-Verlag mit Hermann Lenz um. Er veröffentlicht einen höchst aufschlussreichen, selten rezipierten Text, der im Herbst 1942 an der Wolchow-Front entstanden und wenige Monate später in der „Kölnischen Zeitung“ erschienen ist. Lange bevor Lenz sich entschloss, sich selbst unverblümt zum Gegenstand seiner Romane zu machen, wendet er sich im „Schwäbischen Lebenslauf“ seiner Familie zu, dem Großvater Julius Krumm, der bei Stuttgart eine Gastwirtschaft betrieb und als Schützenkönig glänzte. Anders als in seiner gleichzeitig entstandenen Wien-Prosa bleibt Lenz hier ganz in seinem angestammten Bezirk. Er nähert sich dem Großvater, der drei Jahre vor Lenz' Geburt starb, behutsam an, erzählt Episoden aus dessen Leben, lässt sich von Fotografien inspirieren und hat einen ausgeprägten Sinn für die konkreten Dinge der Großvaterwelt.

Der Germanist und Lyriker Hans Dieter Schäfer beschreibt in seinem instruktiven, auch aus dem Nachlass schöpfenden Nachwort die Hintergründe und macht deutlich, wie Lenz damals „durch Objektnähe das Kalligrafische zu überwinden“ suchte. Eine bemerkenswerte Vorstufe der großen Autobiografie und Einladung, Hermann Lenz wieder zu lesen und ihn vielleicht, so Anna Katharina Hahn, als „wahren Schöpfer des Taugenichts und legitimen Erbe des Leistungsverweigerers Mörike“ zu würdigen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2013)

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