Franz Ferdinand dreht um

Was wäre gewesen, wenn? Eine eminent literarische Frage. Hannes Stein stellt sie in seinem gescheiten und witzigen, kühn aus- und klug weitergedachten Roman „Der Komet“. Sein Aus-gangspunkt: Der Erste Weltkrieg hat nicht stattgefunden.

Im Jahr 1980 veröffentlichte der wenig bekannte italienische Schriftsteller Guido Morselli einen originellen Roman. „Licht am Ende des Tunnels“ geht von der Fiktion aus, dass es der österreichisch-ungarischen Armee gelang, unbemerkt einen Tunnel durch die Alpen zu schlagen und 1916 die italienischen Truppen mit einem Überraschungsangriff niederzuwerfen. Die deutschen Bundesgenossen zogen sich daraufhin aus Frankreich zurück, besiegten Großbritannien und erklärten den Ersten Weltkrieg vorzeitig für beendet. Da sie nicht zu schwer erträglichen Reparationszahlungen genötigt wurden, haben sich die Deutschen im Frieden auch nicht für einen reaktionären Nationalismus, sondern für Demokratie und Völkerverständigung entschieden. Nach einem Weltkrieg, den Österreich-Ungarn und Deutschland gewannen, hat sich daher friedlich ein europäischer Staatenbund gebildet, so demokratisch, wie es ihn zu verwirklichen bis heute nicht gelungen ist.

Vor einigen Jahren ist die nicht von allen Historikern geschätzte „kontrafaktische Geschichtsschreibung“ in Mode gekommen, also die von historischen Fakten ausgehende Spekulation, was gewesen wäre, wenn... Wenn zum Beispiel Alexander der Große nicht als ewiger Jüngling in die Geschichte eingegangen, sondern uralt geworden wäre. Oder wenn es sich der Thronfolger Franz Ferdinand hätte ausreden lassen, ausgerechnet am St.-Veits-Tag nach Sarajewo auf Staatsbesuch zu fahren. Ist es im Nachhinein überhaupt vorstellbar, dass es keinen Ersten Weltkrieg gegeben hat? Und ist es, wenn er tatsächlich niemals erklärt und geführt worden wäre, nicht wahrscheinlich, dass der Welt dann auch der Zweite mit dem Holocaust und den Aberdutzend Millionen Toten auf allen Seiten hätte erspart werden können? Manche Wissenschaftler halten von solchen Spekulationen nichts, eben weil es Spekulationen sind. Umgekehrt ist es jedoch ein geradezu gattungsspezifisches Talent des Menschen, sich nicht mit dem abzufinden, was wirklich ist, sondern sich zu allem auch eine Alternative vorstellen zu können. Die Kunst wäre nichts ohne dieses Vermögen, die Welt nicht nur zu sehen, wie sie ist, sondern auch, wie sie in Wohl und Wehe sein könnte.

Gerade die österreichische Literatur hat immer gerne den „Möglichkeitssinn“ aktiviert, nicht nur dort, wo es um unmittelbar politische und historische Fragen ging. Einen furiosen Möglichkeitsroman hat etwa der nahezu vergessene Wilhelm Muster vorgelegt: In „Der Tod kommt ohne Trommel“ lässt er den k.u.k. Hauptmann Johann-Nepomuk Eibl-Eiblsfeld 1914 aus Sarajewo zu einer k.u.k. Expedition nach Afrika aufbrechen; dort erhält er später keine Kunde vom Ende des Ersten Weltkriegs und errichtet eine winzige Kolonie, sodass Österreich-Ungarns Zukunft auf den afrikanischen Kontinent verlegt wird.

Auffallend häufig gehen kontrafaktische Spekulationen in Wissenschaft und Kunst, die einen anderen Gang der europäischen Geschichte durch das Jahrhundert der großen Verwerfungen imaginieren, vom Mord in Sarajewo aus. Ihnen hat der 1964 in München geborene, in den USA lebende Publizist Hannes Stein mit „Der Komet“ jetzt einen gescheiten und witzigen, kühn aus- und klug weitergedachten Roman hinzugesellt, der auf ebendieser Korrektur des historischen Weltlaufs aufbaut.

Der Roman spielt in einer Gegenwart, die aus einer anderen Vergangenheit hervorgegangen ist und daher anders geartet ist als die unsere. Als Franz Ferdinand und seine Gattin am 28. Juni 1914 Sarajewo besuchten, überlebten sie bekanntlich einen ersten Anschlag, setzten den Staatsbesuch ungerührt fort und fielen dem zweiten Attentat zum Opfer. Hannes Stein lässt Franz Ferdinand, nachdem der erste Versuch, ihn umzubringen, gescheitert war, hingegen den vernünftigen Satz sagen: „I bin do ned deppat, i fohr wieder z' haus.“ In der Folge spielt Stein in einem imposanten Romangebäude mit vielen Etagen und Gängen durch, was dieser Rückzug für Europa bedeutet haben könnte. Der Erste Weltkrieg findet nicht statt. Die Monarchien brechen nicht zusammen.

Der Erste Weltkrieg erzeugt, weil er ausbleibt, keinen weiteren. Im Wien von 2012 wird auf den Straßen Jiddisch, Armenisch, Ruthenisch gesprochen, in der Josefstadt undder Leopoldstadt tummeln sich die Talmudschüler; der Bürgermeister von Wien heißt soähnlich wie der von New York, Jakob Blumberg, und was er gerade einführt, ist das strikte Rauchverbot auf allen öffentlichen Plätzen. Weil die Juden sich nicht nach Übersee hatten retten müssen, sind die USA ein etwas provinziell rückständiges Land geblieben, in dem der österreichische Almdudler, nebenbei, die Rolle von Coca-Cola spielt.

Das ist nur der äußere Rahmen, in dem Stein bald verschmitzt, bald sarkastisch seinen Entwurf einer alternativen Geschichte setzt. In die oft auflachend komische Staatsutopie verwebt er die Seelendgeschichte des sensiblen Jünglings Andrej, der heftig an der Liebe zu einer Dame der guten Gesellschaft laboriert; deren Ehemann, der k.u.k. Hofastronom Dudu Gottlieb, wird beruflich auf den Mond beordert, der von den tüchtigen Deutschen verwaltet wird und dessen Hauptattraktion das Grab Albert Einsteins ist. Dort macht Dudu eine entsetzliche Entdeckung, den Kometen, der auf die Erde zurast. Die Mondreise ist der einzige Tribut, den Stein an die Science-Fiction (eher am Zauberspiel des Volkstheaters) entrichtet; der Taxifahrer aus der Bukowina übrigens, der Dudu zum Terminal für Mondraketen chauffiert, fragt nach dem Grund der Reise: „Geschäftlich oder zum Vergniegen?“

Stein hat nicht nur unzählige bedenkenswerte Einfälle; er verfügt auch über die sprachlichen Mittel, sie geistreich weiterzuspinnen. Dem eigentlichen Text ist ein 30 Seiten umfangreiches Glossar angehängt, das die Thesen des Romans in kurzen historischen Exkursen debattiert. Merkwürdig ist, dass ausgerechnet jener Franz Ferdinand, der in Studien und Romanen für gewöhnlich als wahrer Finsterling erscheint, von Stein als Lichtgestalt in der Genealogie habsburgischer Herrscher charakterisiert wird.

Das hat mit dessen verbürgten Plänen zu tun, aus der österreichisch-ungarischen „Doppelmonarchie“ einen „trialistischen“Staat zu formen, in dem auch den slawischen Völkern nationale Gleichberechtigung gewährt wird. Vermutlich überschätzt Stein diesen Mann, den er allerdings benötigt, um sein abgründiges, von Nostalgie völlig freies Spiel mit historischen Fakten und kontrafaktischen Spekulationen in der realen Geschichte zu erden. Anzuzeigen ist ein Roman, gleichermaßen witzig wie intelligent. ■




Hannes Stein
Der Komet

Roman. 272 S., geb., €19,60 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2013)

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