„Stalin“ raus, „Gott“ rein

Drei Hymnen, ein Dichter. Von einem, der auszog, nacheinander Stalin, Breschnew und Putin zu preisen: Vor 100 Jahren wurde Sergej Michalkow geboren. Über die Kunst, immer auf der richtigen Seite zu stehen.

Das Leben des russischen Schriftstellers Sergej Wladimirowitsch Michalkow kann man in vielerlei Hinsicht als gelungen bezeichnen. Sein Lebensweg ist exemplarisch für das Schicksal jener Menschen in Russland und anderswo, die man im günstigsten Fall als „geschickt“ bezeichnen könnte. Die Kunst, immer auf der „richtigen“ Seite zu stehen oder den richtigen Zeitpunkt zu wählen, um sich zu positionieren, kann man vielleicht mit jener des Stürmers im Fußball vergleichen, der intuitiv weiß, wann er wohin laufen soll, um den idealen Pass zu bekommen und ein Tor zu schießen. Wer das Spiel beherrscht, erwirbt sich auch in schwierigen Zeiten jenes Glück, auf das er einen Anspruch zu haben glaubt . . .

Der vor 100 Jahren, am 13. März 1913, in Moskau geborene Michalkow überlebte – trotz seiner „nicht proletarischen“ Herkunft – den „Roten Terror“, dem nach der Oktoberrevolution die meisten sogenannten Klassenfeinde zum Opfer fielen. Nach der Schule arbeitet der junge Mann als Textilarbeiter, publiziert aber schon Ende der Zwanzigerjahre seine ersten Gedichte. 1933 erscheint sein erster Lyrikband. In den folgenden Jahren macht er sich als Kinderbuchautor einen Namen. Seine Fabeln und Gedichte gehörten zuden Klassikern der sowjetischen Kinder- undJugendliteratur und werden auch heute noch gerne gelesen oder zitiert. Als eines Tages Stalin auf ihn aufmerksam wird, steigt Michalkow endgültig zum Jungstar auf. Der Diktator liesteines seiner Gedichte in der „Prawda“ und beschließt, den jungen Autor zu fördern. Michalkow studiert an der renommierten Moskauer Literaturhochschule, wird 1937 Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR und erhält 1939 den Leninorden.

Vom Terror, den Massenverhaftungen und Exekutionen, denen in diesen Jahren Millionen Sowjetbürger zum Opfer fallen, bleibt Michalkow verschont. Die privilegierte Stellung, die der Autor innehat, dankt er Stalin durch gefällige Theaterstücke und Drehbücher, in denen er die Welt so darstellt, wie es der Machthaber gerne hätte. Michalkows künstlerische Entwicklung „reift“ mit der Linie der Partei, denn er achtet immer darauf, den richtigen Ton und die passenden Themen zu finden, und nicht etwa durch einen unbedachten nostalgischen Blick in die Vergangenheit oder gar die kreative Vorwegnahme dessen, was vielleicht einmal sein könnte, den Zorn des „großen Führers und Lehrers“ auf sich zu lenken. Sein Leben lang bleibt er dem „sozialistischen Realismus“ verhaftet.

Sergej Michalkows große Stunde kommt im Jahre 1943, als Stalin beschließt, dass die Sowjetunion endlich eine eigene Nationalhymne brauche. Bis dahin galt die „Internationale“ als Hymne des Landes. Auch Michalkow – zu diesem Zeitpunkt Kriegsberichterstatter – beteiligt sich am ausgeschriebenen Wettbewerb für den besten Text. Die Jury: das Politbüro und Stalin selbst. Michalkow dichtet nicht allein, sondern gemeinsam mit einem Freund und Kollegen, dem aus Zentralasien stammenden armenischen Journalisten Gabriel El-Registan. Dass ihr Text schließlich das Rennen macht, ist den ersten beiden (übrigens von El-Registan stammenden) Zeilen zu verdanken, die Stalin sehr beeindrucken: „Von Russland, dem großen, auf ewig verbündet, steht machtvoll der freien Republiken Union.“ Während des Krieges gegen Nazi-Deutschland ist der Patriotismus mehr gefragt als die kommunistische Ideologie, der russische Nationalismus ist wichtiger als die Völkerfreundschaft.

Stalin lässt die Autoren zu sich in den Kreml kommen, redigiert mit ihnen den Text, bringt Änderungsvorschläge ein, von denen Michalkow und El-Registan „sofort begeistert“ sind. Die Zeilen, in denen der Diktator erwähnt wird, stammen allerdings nachweislich nicht von diesem selbst, sondern von Michalkow: „O Sonne der Freiheit durch Wetter und Wolken! Von Lenin, dem großen, ward Licht unserm Pfad. Und Stalin erzog uns zur Treue dem Volke, beseelt uns zum Schaffen, zur heldischer Tat.“

Die neue Hymne wird am 1. Jänner 1944 das erste Mal gespielt. Die Musik stammt von Alexander Alexandrow, einem Komponisten, der in den Dreißigerjahren durch die Vertonung von Propagandagedichten, durch pathetische Kampflieder und Filmmusik bekannt wurde. Doch der stirbt 1946; Gabriel El-Registan war schon ein Jahr zuvor verstorben. Fortan gilt also vor allem Sergej Michalkow, der immer mehr zu einem Aushängeschild des Regimes wird, als „Vater der sowjetischen Hymne“. Er ist endgültig in die oberen Ränge der Nomenklatura aufgestiegen. Selbst mehrfacher Stalinpreisträger, gehört er nun der Kommission für die Verleihung des Stalinpreises an. Später wird er – neben vielen anderen Funktionen – Mitglied des Kollegiums des Ministeriums für Kultur der UdSSR, Abgeordneter zum Obersten Sowjet, von 1970 bis 1992 ist er Präsident des russischen Schriftstellerverbandes und schließlich (schon nach dem Ende der Sowjetunion) Vorsitzender des Exekutivkomitees der Union aller Schriftstellerverbände Russlands.

Michalkow beteiligt sich an der Hetze, die die sowjetischen Machthaber gegen regimekritische Künstler wie Pasternak, Achmatowa oder Sinjawskij veranstalten, und erklärt öffentlich, die Verleihung des Nobelpreises an Alexander Solschenizyn sei eine politische Provokation des Westens, die gegen die sowjetische Literatur gerichtet sei.

Michalkows berühmtestes Werk wird allerdings ab Mitte der Fünfzigerjahre nicht mehr gesungen. Seit der Entstalinisierung unter Chruschtschow ist die Erwähnung deseinst „größten Führers aller Zeiten und Völker“ nicht genehm. Bis in die Siebzigerjahre wird Alexandrows Komposition nur mehr instrumental aufgeführt. Erst unter Breschnew beschließt man, dass eszur alten Melodie neue Worte geben sollte. Und wer ist dafür besser geeignet als jener, der damit schon Erfahrung hat? Also schreibt Michalkow seinen ursprünglichen Text um. Die Schlüsselpassagen und den Refrain ändert er kaum, ersetzt allerdings den Kampf gegen den faschistischen Aggressor durch den „Sieg der unsterblichen Ideen des Kommunismus“. Und die entstalinisierte Stalinstrophe klingt nun folgendermaßen: „O Sonne der Freiheit durch Wetter und Wolken! Von Lenin, dem großen, ward Licht unserm Pfad. Zur gerechten Sache rief er die Völker, beseelt uns zu Arbeit und zur Heldentat.“

Die „neue“ Hymne wird 1977 offiziell eingeführt und bleibt bis zur Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 gültig. In der Russischen Föderation gilt in den Neunzigerjahren das „Patriotische Lied“ von Michail Glinka als Nationalhymne. Sergej Michalkow hat währenddessen den Regimewechsel gut überstanden. Der ehemalige Funktionär der kommunistischen Partei betont nun plötzlich stolz seine Herkunft aus dem russischen Hochadel und erklärt außerdem, er sei „immer schon ein religiöser Mensch“ gewesen. In einem Interview spricht er 1995 vom „repressiven alten System mit seiner morschen Wirtschaft“. Stalin halte er jedoch weiterhin für eine außergewöhnliche Persönlichkeit.

Doch die Vergangenheit holt den alten Schriftsteller ein weiteres Mal ein. Korruption, Tschetschenienkrieg und Rubelkrise zeigen, dass Russland den Übergang zur Demokratie nicht geschafft hat, und nach Putins Machtantritt laufen die Uhren zurück. Das neue Regime versucht, sich durch den Rückgriff auf alte Symbole zu legitimieren und seine emotionale Verbundenheit mit der Sowjetzeit zu betonen. Also wird – nach heftigen Debatten im Parlament – die alte Sowjethymne, nun als Nationalhymne der Russischen Föderation, wieder eingeführt. Alexandrows Musik bleibt unverändert. Der Text jedoch muss neu geschrieben werden. Und wer ist dafür am besten geeignet? Richtig.

Sergej Michalkow, zu diesem Zeitpunkt schon 87 Jahre alt, macht sich wieder an die Arbeit. Der Ton und das Pathos früherer Zeiten mit seinen Doppelungen und Überhöhungen bleiben erhalten, und einige Zeilen der ursprünglichen Stalinhymne von 1943 retten sich durch alle Varianten bis in die Gegenwart. Aus „Sei gerühmt, freies Vaterland, die Freundschaft der Völker ist ein sicherer Hort“ wird „Sei gerühmt, freies Vaterland, uralter Bund brüderlicher Völker“: Die Aussage ist fast dieselbe, die Diktion eine andere. In einem autoritären Staat ist, wie bei allen Formen des Autoritarismus, nicht primär die Aussage eines Satzes wichtig, sondern das Arrangement der Wörter, der Code, den dieses Arrangement impliziert, der eigentliche Inhalt hinter dem vermeintlichen, der Gestus. „Freundschaft der Völker“ ist eine kommunistische Schablone, der „uralte Bund“ eine konservative. Die postmoderne Ideologie des Putinregimes mit ihren reaktionären und chauvinistischen Versatzstücken auf einem bolschewistischen Fundament ist letztlich nur eine andere Facette der schon von Stalin vorgegebenen Richtung. „Du bist einzig in der Welt! Du bist so einzig – von Gott zu beschützendes Heimatland!“, heißt es in der heutigen Hymne. „Und dem roten Banner der ruhmreichen Heimat werden wir immer selbstlos treu sein“, hieß es früher.

Nur in einer einzigen Zeile fällt Michalkow ein wenig aus der Rolle: „Treue zum Vaterland gibt uns die Kraft. So war es, so ist es, so wird es immer sein!“, heißt es in der letzten Strophe. Es scheint, als wolle der Autor durch die programmatische Betonung der Kontinuität darauf hinweisen, dass es ihm und allen, die ihm ähnlich sind, immer nur um das eine geht – um die Treue zu einem Vaterland, das sie – ideologiefrei, aber stets loyal – mit der Obrigkeit gleichsetzen.

Die dritte Hymne des Sergej Michalkow wurde im Dezember 2000 offiziell eingeführt. „Das, was ich jetzt geschrieben habe, das kommt wirklich von Herzen!“, beteuerte der Autor. Das mag man glauben oder nicht. Sein Ansehen hat durch diesen Satz jedenfalls nicht gelitten. In den folgenden Jahren erhielt er zahlreiche weitere Ehrungen. Dazu gehörte zum Beispiel der Orden für Verdienste um das Vaterland, den ihm Wladimir Putin am 13. März 2003 persönlich überreichte. Wie in früheren Zeiten hatten die Machthaber auch jetzt eine besondere Affinität zu diesem Künstler. Der harte sowjetische und postsowjetische Alltag blieben ihm und seiner Familie erspart. Seine beiden Söhne, Andrej Kontschalowskij und Nikita Michalkow, haben ebenfalls Karriere gemacht. Beide sind heute bekannte Filmregisseure.

Sergej Michalkow starb am 27. August 2009 in Moskau im Alter von 96 Jahren. Der Trauergottesdienst wurde von Patriarch Kyrill, dem höchsten Würdenträger der russisch-orthodoxen Kirche, geleitet. Die staatliche russischen Presseagentur RIA Nowosti berichtete, dass der Autor, „seinem hohen Status entsprechend“, mit militärischen Ehren bestattet wurde. Zum Abschluss der Zeremonie wurde der Sarg des Dichters zu den Klängen „seiner“ Hymne ins Grab gesenkt, und jeder der Anwesenden hat im Geiste wohl jene Textvariante mitgesungen, die ihmam liebsten war. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2013)

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