Sieben und ein halbes Leben

Simon Karstens glückt mit seiner Biografie über Joseph von Sonnenfels ein großer Wurf. Der „österreichische Montesquieu“ war zugleich Ideenbankier, ein Genie der Selbstvermarktung und famoser Netzwerker.

Sonnenfels steht einsam auf seinem Sockel. Abwechselnd von Punschbrodem und Fritteusendunst umwölkt, ist sein Standbild in das Denkmalsspalier der Denkwürdigen, das den Wiener Rathausplatz säumt, eingereiht. Knauserte das 20. Jahrhundert mit Nachruhm, war Sonnenfels dem 19. umsogedenkenswerter: Geboren in den 1730er-Jahren und 1817 gestorben, lebte er lange genug, um von Maria Theresia bis zu Franz I. höchste Ämter an der Universität und in der Staatsverwaltung zu bekleiden.

Diese Karriere, die Simon Karstens in seinem hervorragenden Buch rekonstruiert, bietet den Schlüssel zu Joseph von Sonnenfels' Nachruhm: Den Liberalen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag ihr „österreichischer Montesquieu“ am Herzen, der erste getaufte Jude als Staatsmann, der un-
ermüdlich für Aufklärung, Toleranz und Freiheit kämpfte. Sonnenfels war der Held, der Maria Theresia für die Aufhebung der Folter gewonnen und das Theater von der zotenhaften Hanswurstiade, der „Posse“, befreit hatte. In der liberalen Ahnengalerie erhielt er gleich neben dem gekrönten Menschenfreund JosephII.sein Ehrenplätzchen.

Das 19.Jahrhundert mit seinem liberalenGeschichtsbild genießthierzulande immer noch viel Prestige; das pausbäckige Erbenlächeln, mit dem die FPÖ das Vermächtnis der Revolution von 1848 beansprucht, beweist dies zur Genüge. Die langfristige Bedeutung der liberalen Sicht auf die Vergangenheit liegt aber jenseits tagespolitischer Effekthascherei, sie bestimmt immer noch unser Verständnis der österreichischen Geschichte seit Joseph II. und ihrer Wendepunkte.

Im Jahr 1848 präsentierten sich die Liberalen erfolgreich als Alleinerben der Josephinischen Aufklärung. Die Epoche, die zwischen der Regentschaft Josephs in den 1780er-Jahren und der Revolution lag, die rund 60 Regierungsjahre der Kaiser Franz und Ferdinand I., taten sie als tote Zeit, als Ära der klerikalen Reaktion ab. Der Vormärz, das Etikett, das man der Epoche aufklebte, spricht Bände. Der späte Sonnenfels empfahl sich dem Liberalismus folgerichtig als Märtyrer des Metternich'schen Systems.

Indem Simon Karstens nun in seiner akribischen Arbeit Sonnenfels' Lebensweg rekonstruiert, beginnt er auch den Firnis der liberalen schwarzen Legende über den Vormärz abzutragen. Karstens porträtiert Sonnenfels als Ideenbankier, als Genie der Selbstvermarktung und Netzwerker, dessen Reüssieren auch seinen Schützlingen Aufstiegschancen eröffnet hat. Unter der Protektion der Fürsten Dietrichstein, von Kanzler Kaunitz und Staatsräten wie Franz von Greiner und Egidius von Borié gelang es Sonnenfels, sich als Allround-Koryphäe unentbehrlich zu machen.

Seine Tausendsassaqualitäten stellte Sonnenfels als Herausgeber zweier in Eigenregie verfasster Zeitschriften unter Beweis, als Zensor und Kritiker, der Ästhetik und Sittlichkeit normierte, ebenso wie als Beamter und Hochschullehrer. In seinen siebeneinhalb Leben fehlte Sonnenfels in keinem der Regierungsgremien zur Reform der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit, er begründete nebenbei die politische Ökonomie in den habsburgischen Ländern und etablierte die erste staatswissenschaftliche Professur. In seinen Mußestunden schrieb er zwei Lehrbücher für die Universitäten der Monarchie, die bis 1848 in Gebrauch blieben, reorganisierte die Akademie der bildenden Künste und entwickelte ein System zur Tilgung der inflationären Banknoten vor dem Staatsbankrott von 1811.

Bei all dem stellte Sonnenfels sein Licht nie unter den Scheffel. Karstens demonstriert mit detektivischem Spürsinn, wie geschickt er sich seines Rezensions- und Zitierkartells bediente. Schüler, die Sonnenfels förderte, vergalten es ihrem Lehrer gern mit Gefälligkeitsprosa. Die Aufbereitung in Zeitschriften, aber auch durch Briefpartner und persönliche Gewährsleute gab mehrmals den Ausschlag dafür, dass aus einer Reihe ähnlich gearteter Reformkonzepte Sonnenfels' Entwürfe zum Zug kamen. Diese sensible Aufarbeitung der Quellen gerät bei Karstens freilich nie zur Desavouierung, die Entdeckung von Sonnenfels' medialem Resonanzraum schmälert keineswegs seine enorme Bedeutung.

Karstens zeigt, dass sich Sonnenfels in den letzten 25 Jahren seines Wirkens, den Jahren der „Reaktion“, mitnichten in den Schmollwinkel zurückgezogen hat, wie seine Biografen aus dem späten 19. Jahrhundert glauben machen wollen. Er trat mit bewährter Zähigkeit und Behändigkeit für seine Ziele ein, schuf eine neue Gesindeordnung für Wien, die seinem wohlfahrtsstaatlichen Fürsorgekonzept entsprach, und kämpfte für eine Sammlung der Verwaltungsgesetze, einenallgemeinen „politischen Kodex“, der als Verfassungssurrogat fungieren sollte.

Zugleich konzipierte Sonnenfels einen Teil des Strafgesetzes von 1803 und wirkte in der Kommission für die Kodifikation des 1812 kundgemachten Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches. Sonnenfels' Projektskizzen und Eingaben prasselten unablässig auf die zuständigen Gremien ein, und ebendieses Sozialprofil des Generalisten ließ ihn im frühen 19.Jahrhundert zusehends als Überbleibsel einer versunkenen Welt erscheinen. Die langsam in ihren Sparten Fuß fassenden Spezialisten der Bürokratie konnten ihn als Querulanten und Schwadroneur belächeln. Für Sonnenfels freilich gab es nichts als Querschnittsmaterien, er verkörperte denTypus des Staatsmanns, der sich von der Silberagioparität der Währung bis zu Fragen des Abstimmungsmodus in Richterkollegien omnikompetent wähnte, gewissermaßen ein Hannes Androsch des frühen 19.Jahrhunderts.

Die Verdienste von Karstens' Buch greifen weit über die Sichtung des Lebenslaufs hinaus. Es lädt dazu ein, sich kritisch mit der liberalen Selbstbeweihräucherung im 19. Jahrhundert auseinanderzusetzen. Gerade Sonnenfels' intellektuelle Biografie liefert wichtige Belege dafür, dass das liberale Denken der 1830er- und 1840er-Jahre sich nicht einfach aus der Aufklärung gespeist hat. Von Adam Smiths wirtschaftsliberalen Lehren kapselten sich Sonnenfels und seine Schüler ab, die romantische Ästhetik übergossen sie mit Spott. Wenn freilich der bruchlose Übergang von der Aufklärung zum Liberalismus immer mehr als Stringenz-illusion erscheint, dann ist die Zeit für eine neue Sicht auf den Vormärz reif.

Die Aufklärung war weit vielgestaltiger und langlebiger, als die Liberalen um 1848 wahrhaben wollten. 1848 saß die Aufklärung rittlings auf den Barrikaden, während der Liberalismus sie als Erbe neu erfand. Ein Jahr später las ein munterer Metternich im Londoner Exil den österreichischen Liberalen die Leviten und nahm insbesondere an dieser Geschichtsklitterung Anstoß. Über die Indienstnahme JosephsII. notierte er 1849 lakonisch: „Freisinnig in seinen Worten war er es nicht in seinen Thaten, und ganz gewiß nicht im Sinne des modernen Liberalismus.“ ■

Simon Karstens
Lehrer – Schriftsteller –Staatsreformer

Die Karriere des Joseph von Sonnenfels (1732–1817). 508 S., geb., €79 (Böhlau Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2013)

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