Ein Leben als Magd

Zu Lebzeiten war ihr Werk für die Öffentlichkeit inexistent. Sie hatte ihr Wissen und Können ganz in den Dienst ihres Mannes gestellt. Doch Veza Canetti war eine Schriftstellerin von Rang. Anmerkungen zum 50. Todestag.

Was bleibt von einem Autorinnenleben? Das Werk? Der Mensch hinter dem Werk?Was, wenn all dies nicht mehr ausreichend ausmachbar ist? Wenn es nie wirklich transparentwerden durfte, weil es verschüttet ist? Wenn es sich entzieht? Oder wenn gar das wenige, das sich als markanter Hinweis, als Konkretes gebärdet, noch mehr Fragen auslöst?

Auf welche Weise nähern wir, die heute lebenden Autorinnen, uns einem solchen Leben, einem solchen Werk? Mehr noch: Wie oft sind wir ratlos und ortlos, wenn wir den verwehten Spuren einer unserer poetischen Mutterfiguren zu folgen suchen, weil so wenig von ihnen, ihrer Arbeit dokumentiert, wertgeschätzt und behütet ist! Zudem verfügen wir nicht selten über kein brauchbares Instrumentarium, das uns präzise Annäherungen an so ein Werk ermöglicht.

Was uns zur Verfügung stehen mag, sind unsere Empathie sowie die Besinnung auf etwas, was auf das Schicksal vieler (namenloser) schreibender Frauen in der Geschichte verweist. Bei Veza Canetti kommt noch ein wichtiger Aspekt hinzu: Sie verbrachte ihr Leben an der Seite des Nobelpreisträgers Elias Canetti, dessen Ehrung sie nicht mehr erlebte, den sie aber zeitlebens unterstützte.

Veza Canetti zu erinnern bedeutet sich mit einer komplexen, starken Autorinnenpersönlichkeit auseinanderzusetzen, mit der Vielfalt ihrer formalen Zugänge im Schreiben, mit einer gleichermaßen politischen wiepoetisch aufgeladenen, zündenden Sprache. Es bedeutet aber auch, daran zu erinnern, dass ihr Werk über Jahrzehnte nicht zugänglich war; mehr noch, dass es gar nicht existieren durfte. Kaum jemand wusste davon. Es bedeutet darüber hinaus, immer wieder daran erinnert zu werden, dass viele ihrer Arbeiten verschollen sind.

Es ist an der Zeit, sich diese Autorin ins Gedächtnis zu rufen, und es wird Zeit, sie und ihr Werk ganz selbstverständlich in die Rezeption einzubeziehen. Veza Canetti war Jüdin ungarisch-spaniolisch-serbischer Herkunft, Sozialistin und – das sei nochmals erwähnt – Ehefrau des Schriftstellers Elias Canetti. Am 1.Mai jährt sich ihr Todestag zum 50. Mal. Vermutliche Todesursache: Suizid – offizielle Todesursache Lungenembolie. Was sich in all den Jahren ihres Londoner Exils und in der Zeit davor in Österreich abspielte, war ein Leben voll von Anstrengungen, Überlebenskampf, innerer Einsamkeit und zahlreichen vergeblichen Versuchen, ihre Manuskripte bei Verlagen unterzubringen.

Die Lücken in der Biografie Vezas

Viel zu spät, im Jahre 1990, erschien ihr Debüt, der Roman „Die Gelbe Straße“, ein buntes, sozialkritisches Kaleidoskop, eine Milieustudie jener Straße, in der Veza mit ihrer Mutter bis zu deren Tod lebte: der Ferdinandstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Bis heute sind Leben und Werk der Dichterin von unzähligen Lücken durchsetzt, vieles bleibt unklar. Etwa die Frage, wann genau Veza Canetti zu schreiben begonnen hat; ob und inwieweit Elias Canetti – wie oft angenommen – die Veröffentlichungsmöglichkeiten seiner Frau behindert haben mochte. Hinzu kommt, dass vieles von dem, was wir über Veza Canetti erfahren, aus seiner Feder stammt; ein Umstand, der ebenfalls die Auseinandersetzung mit Leben und Werk der Dichterin erschwert.

Venetiana Taubner-Calderon kam am 21.November 1897 als Tochter von Rachel Calderon und Hermann Taubner, einem Handlungsreisenden, auf die Welt. Bereits bei der Geburt fehlte ihr der linke Unterarm. Sie kaschierte diese Behinderung zeitlebens so geschickt, dass sie den meisten Zeitgenossen verborgen blieb. Die Familie musste mehrmals umziehen; 1904 starb Hermann Taubner in Belgrad, und Rachel Calderon heiratete daraufhin einen begüterten Witwer aus dem bosnischen Sarajewo; dieser misshandelte Ehefrau und Kind, war geizig und intolerant. Die Dichterin verarbeitete diese Erfahrungen in der Kurzgeschichte „Geld – Geld – Geld“. Venetiana Taubner-Calderon galt als eigenständig, sie absolvierte die Matura und brachte sich Englisch und Französisch bei. Ihre Belesenheit war bekannt, sie hielt sich gern in Künstler- und Literatenkreisen auf. Sie arbeitete als freie Lektorin und Übersetzerin.

Elias Canetti begegnete ihr anlässlich einer Vorlesung von Karl Kraus im Jahre 1924. Die beiden verband die gemeinsame Liebe zur Literatur; kritische Diskurse und intellektuelle Auseinandersetzungen waren Teil dieser Beziehung. Veza Canetti war ihm im Laufe ihres gemeinsamen Lebens Ratgeberin; sie lektorierte und übersetzte für Elias Canetti und betreute seine Korrespondenz. Sie war es auch, die für die materielle Sicherung der beiden die Verantwortung übernahm. Elias Canetti interessierte sich stets auch für andere Frauen, weil sie ihn körperlich oder auch durch ihre gesellschaftliche Stellung anzogen. In ihren „Briefen an Georges“, nämlich Georg, den Bruder Elias Canettis, kam die Autorin immer wieder auf ihre beinahe mütterlichen Pflichten gegenüber ihrem nervlich kaum belastbaren Mann zu sprechen; auf ihre innere Vereinsamung mithin und die große Seelenverbundenheit mit Georg. Den Briefen ist überdies zu entnehmen, dass Veza Canetti immer wieder an den Freitod als einzigen Ausweg dachte.

Im Jahr 1932 erschien ihre Erzählung „Geduld bringt Rosen“ in der Anthologie „Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland“, herausgegeben von Wieland Herzfelde. Ventiana Taubner-Calderon wählte das Pseudonym Veza Magd. Einer der Gründe war der fortschreitende Antisemitismus; die Dichterin überließ ihrem Mann jedoch ab 1934, dem Jahr ihrer Eheschließung, auch den Familiennamen und stellte lebenslang ihre Produktivität zurück, um Elias Canetti und seiner Arbeit die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Sie verbarg sich als Verfasserin von Erzählungen, die etwa in der „Arbeiter-Zeitung“, den „Neuen Deutschen Blättern“, der „Deutschen Freiheit Saarbrücken“ erschienen, stets hinter Pseudonymen: Veza Magd, Veronika Knecht, Martha Murner, Martina Murner, Marina Murner, Martin Murner. Damit ging auch die Löschung ihrer Existenz als Dichterin Veza Canetti einher.

Im Jahre 1933 wurde ihre Erzählung „Ein Kind rollt Gold“ von der „AZ“ im Rahmen eines Preisausschreibens prämiert. Bereits zu jener Zeit hatte sie zwei Romane vollendet, die bis heute unauffindbar, verschollen sind. „Mein erstes Buch war ein Kaspar-Hauser-Roman, und ich schickte ihn begeistert einem großen Schriftsteller. Der war so klug, mich so lange auf die Antwort warten zu lassen, bis ich sie mir selbst gab. Seither veröffentlichte ich Erzählungen und den Roman ,Die Genießer‘ in der deutschen und österreichischen Arbeiterpresse.“ So Veza Canetti im Anhang zu „Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland“.

Bald darauf komponierte sie lose Geschichten, von denen einige bereits in der „AZ“ erschienen waren, zum Roman „Die Gelbe Straße“. Das Mit- und Gegeneinander von Reichen und Minderbemittelten in der Leopoldstadt war darin ihr topografischer Ausgangsort. Veza Canetti erfasste mit ihrer poetisch aufgeladenen, skurrilen, sozialkritischen Prosa die Auswüchse ihrer Zeit; Ausbeutung, Ungleichbehandlung, Unterdrückung von und Gewalt gegenüber Frauen und einfachen Menschen: „Der Verräter an den Mägden ist ihr Blick. Die Wahrheit darin ist verschüttet, das Ziel ist ausgepeitscht. Sie wissen nicht, dass sie sich erniedrigen. Und nur zuweilen ahnen sie es.“ Da sie für das Werk keinen Verlag fand, schrieb sie zwei Episoden zu Theaterstücken um („Der Oger“, „Der Tiger“).

1935 übersiedelte das Paar Canetti nach Grinzing. Dieser Lebensort sowie die Zeit vor der Flucht über Paris nach London im Jahre 1938/1939 waren Impuls für den Roman „Die Schildkröten“. Unbehaustheit, Angst vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten, Brachialgewalt gegenüber Mensch und Tier werden in diesem Werk thematisiert. Die Sprache ist ernster, auch ruhiger als in der „Gelben Straße“, wohl auch, weil die Dichterin – unmittelbar persönlich betroffen – massiv ihr eigenes Leben einband. „Die Schildkröten“, denen Hakenkreuze in den Panzer eingebrannt werden sollen, spiegeln die Schutzbedürftigkeit und Verletzlichkeit der Juden wider.

Hungern und frieren im Exil

Die Zeit im Londoner Exil brachte Veza Canetti ständiges Frieren und Hungern; das hielt sie dennoch nicht davon ab, ihren in Wien verbliebenen Freunden Lebensmittel zu schicken. Sie war für ihr warmherziges, sozial engagiertes und einfühlsames Wesen bekannt, obgleich sie sich selbst immer wieder am Rande ihrer seelischen Belastbarkeit fand. Auch für den Roman „Die Schildkröten“ fand sich keine Veröffentlichungsmöglichkeit. Offensichtlich war den Verlagen der politische Inhalt des Manuskripts zu riskant. 1956 schließlich zerstörte sie in einem Anfall von Verzweiflung etliche ihrer Manuskripte. Von da an hätte sie das Schreiben aufgegeben, so ihr Mann. Es ist allerdings auch bekannt, dass sie 1961 das Vorwort zur Werkauswahl „Welt im Kopf“, einem Buch, das Elias Canetti nach dem Krieg die Aufmerksamkeit in Österreich sicherte, verfasste.

Als 1963 der Hanser-Verlag „Die Blendung“ neu veröffentlichte und Elias Canetti nach Wien reiste, um daraus zu lesen, kam Veza Canetti nicht mehr mit: „Mein Herz ist schon einmal gebrochen, wie ich wegmusste, noch einmal hält es das nicht aus.“ Mit keinem Wort erwähnt Elias Canetti in seiner Lebensgeschichte „Die Fackel im Ohr“ und im Folgeband „Das Augenspiel“, dass seine Frau selbst Autorin war. Sie schrieb Prosa, Briefe und übersetzte unter anderem „The Power and the Glory“ von Graham Greene.

Als die Veröffentlichung ihrer Werke (unter tatkräftigem Einsatz von Helmut Göbel) endlich geplant war, begann erst die Suche nach einem passenden Namen für die Autorin. Veza wurde sie zu Lebzeiten von den ihr nahen Menschen genannt. ■

VEZA CANETTI: Veranstaltungen

Lücken – Veza Canetti erinnernd. Petra Ganglbauer, Susanne Hochreiter, Margret Kreidl, Ilse Kilic und Gertrude Moser-Wagner präsentieren am 30. April in der Wiener Alten Schmiede, Schönlaterngasse 9, um 19 Uhr poetische und wissenschaftliche Suchbewegungen und Referate, Textbetrachtungen und Videofilme.

Veza Canetti lebt. Buchpräsentation und Lesung. Am 7. Mai um 19 Uhr im psychosozialen Zentrum ESRA, Tempelgasse 5. Zum Buch sprechen die Heraus- geberinnen Karin Ballauf, Petra Gangl- bauer und Gertrude Moser-Wagner
(Promedia Verlag, Wien).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2013)

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