Erinnern, versöhnen, vergessen

Der Streit um Spaniens Geschichte, um Bürgerkrieg und Diktatur: Georg Pichlers kundige, lesenswerte Chronik über die „Gegenwart der Vergangenheit“.

Man ist geneigt, dem Autor Etikettenschwindel vorzuwerfen, wenn er im Untertitel behauptet, sein Buch handle von der „Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien“. Tatsächlich verknüpft er nämlich die Darstellung dieser Kontroverse mit ihren politischen und ideologischen Voraussetzungen, die in die Anfänge der bürgerlichen Herrschaft zurückreichen, und vertieft sie durch Interviews mit Historikern, Philosophen, Juristen, Archäologinnen, forensischen Medizinern und Publizisten. Seine Chronik gerät ihm so zu einem engagierten, dabei kühl abwägenden Essay über Gedächtnis und Geschichte, der auch Leuten ans Herz gelegt sei, die der spanische Erinnerungsstreit eigentlich kalt lässt.

Georg Pichler bringt für das Thema ideale Voraussetzungen mit: Er lebt und arbeitet –als Germanistikprofessor der Universität von Alcalá de Henares – seit Langem in Spanien, befasst sich eingehend mit dem Spanischen Bürgerkrieg und nimmt regen Anteil am politischen Geschehen seines Gastlandes, speziell an den Debatten um Krieg, Diktatur und Demokratisierung, hat sich aber den Blick von außen bewahrt, der es ihm ermöglicht, Dinge aus der Distanz und in Bewegung wahrzunehmen. Und er schreibt eine unaufdringliche Prosa, mit der es ihm gelingt, komplexe Sachverhalte bündig, dabei unverkürzt mitzuteilen.

Mit den Leichenfunden ermordeter Republikaner hatte im März 2000 das movimiento memorialista begonnen, die spanische „Gedächtnisbewegung“, die sich drei Ziele gesetzt hat: Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung. Ihr beherzter Proponent ist der Journalist Emilio Silva, dessen Großvater im Oktober 1936 zusammen mit einem Dutzend anderer Antifaschisten seines Dorfes neben einem Feldweg erschossen und an Ort und Stelle verscharrt worden war. Den Angehörigen der Ermordeten wurde von Behördenseite, auch in der wiedergewonnenen Demokratie, nie mitgeteilt, wo die Leichen liegen, geschweige denn, dass sie für die Verbrechen irgendeine Art von Entschädigung, ob reell oder symbolisch, erhalten hätten.

Silva ist Mitbegründer der Asociaciónpara la Recuperación de la Memoria Histórica, des „Vereins zur Erlangung des historischen Gedächtnisses“, der in Kooperation mit einer Reihe ähnlich ausgerichteter Organisationen bis Dezember vorigen Jahres 330 Massengräber geöffnet und 6290 Leichen exhumiert hat – mit wenigen Ausnahmen Opfer frankistischer Gewalttäter. Um die Dimensionen der außergerichtlichen Exekutionen zu begreifen, muss man sich die Schätzungen seriöser Historiker in Erinnerung rufen. Ihnen zufolge sind während des Bürgerkriegs und unmittelbar danach mindestens 130.000 Republikaner und an die 49.000 Parteigänger oder Sympathisanten der aufständischen Militärs erschossen, erschlagen oder sonstwie zu Tode gebracht worden – nicht bei Kampfhandlungen wohlgemerkt, sondern im Hinterland. Während es den Familien der ermordeten Faschisten in den Jahrzehnten der Diktatur ermöglicht wurde, diese zu bergen und auf Friedhöfen zu bestatten, sind die Angehörigen der toten Republikaner nach wie vor auf eigene Suchaktionen angewiesen. Über die Wahrheit, die sie ans Licht bringen, besteht kein gesellschaftlicher Konsens. Das im Dezember 2007 von der sozialdemokratischen Regierung Rodríguez Zapatero verabschiedete Gesetz des historischen Gedächtnisses sieht zwar vor, dass staatliche Stellen die Exhumierungen subventionieren müssen, enthebt die Behörden aber der Verpflichtung, von sich aus tätig zu werden.

Die zweite Forderung, nach Gerechtigkeit, konnte schon bisher nicht durchgesetzt werden und wird weiterhin unerfüllt bleiben: Spanien ist, bezüglich seiner jüngeren Geschichte, ein Land der Straflosigkeit. Kein einziger Protagonist oder Vollzugsgehilfe der Diktatur ist für seine Verbrechen je zur Rechenschaft gezogen worden. Mittels einer fragwürdigen Auslegung des Amnestiegesetzes von 1977 lehnt es die Justiz ab, Anzeigen gegen Repressoren des Francoregimes nachzugehen. Dieses Gesetz (das eigentlich inhaftiertenAntifrankisten zugutekommen sollte, aber die Folterknechte der Diktatur „im Konjunktiv“, wie Pichler schreibt, das heißt ohne vorheriges Verfahren begnadigt hat) diente Richtern des Obersten Gerichtshofes auch als Vorwand, um ihren unbequemen Kollegen Baltasar Garzón in einem (eigentlich drei) aufsehenerregenden Verfahren loszuwerden. Garzón hatte sich Ende 2008 nämlich für zuständig erklärt, das Verschwindenlassen von Personen als – nicht verjährbares – Verbrechen gegen die Menschheit zu untersuchen und zu ahnden. Deshalb wurde er von zwei rechtsextremen Organisationen wegen Amtsmissbrauch angezeigt. Das im Vorjahr ergangene Urteil spricht von der Unmöglichkeit, „den Frankismus strafrechtlich zu verfolgen, da die Verantwortlichen nicht mehr am Leben seien – und verwandelt so das Amnestiegesetz in ein Schlussstrichgesetz“ (Pichler).

Beide politischen Lager, die sich seit den ersten freien Wahlen von 1977 an der Macht abgelöst haben, sind bemüht gewesen, die während des demokratischen Übergangs manifesten politischen Kräfte, die auf einen Bruch mit dem Frankismus drängten, zurückzudrängen – und gleichzeitig den Kampf um die Erinnerung zu entschärfen. Als Erste die Sozialisten, indem sie vor der Rückkehr zu Gewalt und Diktatur gewarnt haben. Dann die Konservativen, die von der Notwendigkeit sprachen, alte Wunden zu schließen oder nicht wieder aufbrechen zu lassen. Der Blick war, im einen wie im andern Fall, scheinbar in die Zukunft gerichtet, wo ein desafío, eine Herausforderung nach der andern darauf wartete, gemeistert zu werden.

De facto ging es jedoch darum, mit der Ideologie der nationalen Versöhnung einen Mythos zu schaffen, der über den Antagonismus zwischen Recht und Unrecht, ebenso über den sozialen Graben zwischen Siegern und Besiegten hinwegtäuschen sollte. Die gegenwärtige Krise, die zu einem erheblichen Teil den Versäumnissen der Demokratisierung geschuldet ist, wird zum Vorwand genommen, die Auseinandersetzung um die Verbrechen der Vergangenheit zu beenden. Wer will, so die zynische Frage des jetzigen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy, bei über sechs Millionen Arbeitslosen und drohendem Staatsbankrott noch wissen,wo die Schädelknochen oder Schuhsohlen des Großvaters begraben liegen.

In seiner Darstellung blickt Pichler immer wieder nach draußen, auf die europäische und außereuropäische „Gedächtnis-konjunktur“. Dabei korrigiert er das Vorurteil, dass es jeweils erst in der übernächsten Generation zur kollektiven „Aufarbeitung“ gesellschaftlicher Verbrechen komme. „Diese sogenannte Theorie der zweiten Generation oder der Enkel ist insofern etwas brüchig, als die Altersspanne der Personen, die sich für eine Revidierung des Gedächtnisses engagieren, von Jugendlichen bis hin zu Zeitzeugen reicht, sodass also eher der zeitliche Abstand ausschlaggebend ist als die tatsächliche Generationenabfolge.“ Aber auch Letzteres stimmt nur bedingt; dem liberalen Historiker Santos Juliá, einem von Pichlers Gesprächspartnern, ist zuzustimmen, wenn er an die Fülle von Filmen, Büchern und Zeitungsartikeln erinnert, die Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre Verfolgung und Widerstand thematisiert haben. Erinnerung hatte, so gesehen, immer Konjunktur, änderte sich allerdings in dem Maße, in dem die Erinnerten anders wahrgenommen wurden. Sah man in ihnen anfangs Genossen, Kampfgefährtinnen, Revolutionäre oder Feministinnen, wie man selbst einer oder eine war oder sein wollte, so wird heute ihr Opferstatus hervorgehoben. Voraussetzung ist, dass sie unschuldig waren, demokratische Gesetze oder moralischeGebote nicht übertreten haben.

Auffällig ist, aufseiten der Linken, auch das gestiegene Prestige der Zweiten Republik (1931–1939). Sie war von Aufbruchswillen erfüllt, gewiss, aber beileibe kein Paradies. Geschichtsmächtig wurde sie nur hinsichtlich der Hoffnungen, die sie geweckt hat. „Gedächtniskonjunktur“ ist, könnte mansagen, oft auch ein Zeichen politischer Schwäche. Der Optimismus, der Oppositionelle in den letzten Jahren der Francodiktatur und den ersten des demokratischenÜbergangs beseelt hat, ist vergangen. An die Stelle von Richtig und Falsch – Sozialismus, welcher Prägung auch immer, versus Kapitalismus – ist der Gegensatz von Gut und Böse, Anständig und Unanständig getreten. Er verweist auf ein sittliches Gebot, stellt aber kein eindeutig politisches Kriterium dar.

Georg Pichler setzt auf mündige Leser. Er verzichtet darauf, Äußerungen seiner Interviewpartner zu kommentieren, auch wennes ihm manchmal schwergefallen sein mag. Überraschend ist das Bedauern des Philosophen Reyes Mate, dass es in Spanien, von neonazistischen Grüppchen abgesehen, keine eindeutig rechtsextreme Partei gebe. Deshalb hätten sich nämlich die frankistischen Sektoren im konservativen Partido Popular eingenistet. „Daher muss die Partei auf sie Rücksicht nehmen, denn sie sind medial sehr präsent. Sie verzeihen nie, verlangen aber vonden anderen, dass sie verzeihen.“

Pichler geht auch auf den Kinderraub ein,der während des Bürgerkriegs begonnen undbis in die frühen Achtzigerjahre angedauert hat. Erfolgten diese Verbrechen anfangs aus politischen Motiven – die Kranken- oderZuchthausdirektionen wollten die Kinder dem Einfluss ihrer „roten“ Mütter entziehen –, so kam es später zu einem schwungvollen Handel mit den Neugeborenen armer oder lediger Frauen, die man an kinderlose christliche Paare verhökerte. Den leiblichen Müttern wurde gesagt, dass die Babys ihre Geburt nicht überlebt hätten. Eine zentrale Gestalt in diesem grässlichen Geschäft war die Nonnenschwester María Gómez Valbuena, die am 24. Jänner dieses Jahres verstorben ist. Die Einstellung der gegen sie laufenden Verfahren könnte ihre Komplizen vor strafrechtlicher Verfolgung bewahren.

Lesenswert ist der Exkurs über die katholische Kirche: dass sie zwar, des inneren Friedens willen, gegen die „Gedächtnisbewegung“ ankämpft, selbst aber eine ebenso unversöhnliche wie historisch verlogene betreibt. Bis Ende 2011 sind von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. mehr als tausend Priester und Ordensleute als Märtyrer der Republik seliggesprochen worden. Aber weder dem spanischen Episkopat noch demPapst in Rom ist je auch nur ein Wort des Bedauerns darüber über die Lippen gekommen, dass die Amtskirche Francos Vernichtungskrieg gegen die demokratisch gewählte Regierung als „Kreuzzug“ begrüßt und unterstützt hat. Man sieht schon, Pichlers Buch über die „Gegenwart der Vergangenheit“ wird seinem Titel spielend gerecht. ■

Georg Pichler

Gegenwart der Vergangenheit

Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien. 334S., geb., €30,40 (Rotpunktverlag, Zürich)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2013)

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