Diese gewisse Lieblosigkeit der Eltern

Gespenster aus einer verlorenen Kindheit: Modianos „Horizont“.Mit der Übersetzung von „Eine Jugend“ durch Peter Handke wurde Patrick Modiano 1988 auch hierzulande einem breiten Publikum bekannt.

Mit der Übersetzung von „Eine Jugend“ durch Peter Handke wurde Patrick Modiano 1988 auch hierzulande einem breiten Publikum bekannt; fast alle seiner 27 Bücher wurden seither übersetzt. Zuletzt erschien „Im Café der verlorenen Jugend“ – hier wie in zahlreichen weiteren Texten erinnert sich Modiano mittels seiner Figuren an die eigene Vergangenheit. Der Urgrund seines Schreibens liegt, wie er in „Der Stammbaum“ gesteht, in der traumatisierenden Lieblosigkeit seiner Eltern und ihren Verstrickungen in der Zeit der Okkupation. Modiano ist durchaus kein literarischer Vatermörder geworden, doch seine Figuren sind ständig auf der Suche nach ihrer verlorenen Kindheit und Jugend, nach den „Menschen“, die sie einmal (vielleicht aber auch nicht) gewesen waren. „Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren“ – dieser Satz von René Char, den er seinem „Familienstammbuch“ voranstellt, könnte auch als Leitmotiv für sein gesamtes Œuvre stehen.

„Seit einiger Zeit dachte Bosmans an gewisse Episoden seiner Jugend, folgenlose, jäh abgebrochene Episoden, namenlose Gesichter, flüchtige Begegnungen. Das alles gehörte zu einer fernen Vergangenheit, doch weil diese kurzen Sequenzen nicht verbunden waren mit dem Rest seines Lebens, blieben sie in der Schwebe, in einer ewigen Gegenwart.“ Die Hauptfigur von „Der Horizont“,Patrick Modianos 26.Roman, kauft sich ein Notizbuch, um sich seiner lückenhaften Erinnerungen der Sechzigerjahre zu vergewissern, jener, wie er einmal räsoniert, „dunklen Materie“ aus verpassten Rendezvous, verlorenen Briefen, aus Telefonnummern, die nicht mehr existieren. Er beginnt umherzustreifen und Straßen, Häuser, Gerüche intensivieren seine Erinnerungsarbeit.

Namen tauchen auf: Merovée oder die fröhliche Bande, und sie vergegenwärtigen ihm erneut jene seltsame Liebesgeschichte mit Margaret le Coz. Die junge Bretonin mit Geburtsort Berlin war auf der Flucht vor einem zu der damaligen Zeit noch nicht so genannten Stalker gewesen, als Bosmans sie traf. Boyaval hieß der Verfolger, und mit seinem hageren Gesicht, den pockennarbigen Wangen, dem schwarzen Haar im langen Bürstenschnitt, den harten grauen Augen, den Körper eingezwängt in zu enge Kleider, erscheint er geradezu einem Albtraum entsprungen. Aber auch Bosmans wird von Gespenstern aus der Kindheit verfolgt, „von der Frau, die laut Geburtsurkunde seine Mutter war“ – und die immer gemeinsam „mit dem aus der Kutte gesprungenen Pfarrer“ auftritt: Bei jedem Treffen fordern sie vom schamgelähmten Bosmans Geld.

Irgendwo hatte Bosmans gelesen, die erste Begegnung zweier Menschen „sei wie eine leichte Verletzung, die jeder spürt und die ihn aus seiner Einsamkeit und seiner Benommenheit reißt“. Die zarte Liebesgeschichte zweier Einsamer und Entwurzelter wird in jenem Jahr aber von zahlreichen „Menschen, die man sich nicht ausgesucht hatte und die einen hindern, glücklich zu sein“, überschattet, deren schwarze Gestalten einem ein Leben lang den Horizont verdecken würden. Es wird Jahrzehnte dauern, bis er es schafft, sich aus diesem Gewirr zu lösen.

In jenen Jahren arbeitet Bosmans als Angestellter in einer Esoterikbuchhandlung und versucht sich an einem Roman. Er ist ein – für Modianos Werk typischer – Flaneur, der sich die Wirklichkeit mittels seiner Träume erklärt und überzeugt ist, Leute aus der Vergangenheit führten ein Parallelleben in einem Zeitkorridor: „Er hatte sich immer vorgestellt, er könnte in den hintersten Winkeln gewisser Viertel die Personen wiederfinden, denen er in seiner Jugend begegnet war, mit ihrem Alter und mit ihrem Aussehen von einst. Sie führten dort ein Parallelleben, gefeit gegen die Zeit.“

An die Zukunft dachte keiner, „wir lebten noch, ohne unser Glück recht zu begreifen, in einer ewigen Gegenwart“. Zumindest bis zu jenem Tag, an dem Margaret Hals über Kopf aus Paris flieht. Am Ende wird Bosmans sie, nach über 40 Jahren, in einer Berliner Buchhandlung wiederfinden, in einer symbolhaften Stadt also, aus Ruinen wiederaufgebaut, getrennt und als wiedervereinte lebendiger denn je. ■

Patrick Modiano

Der Horizont

Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. 176S., geb., €18,40 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2013)

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