Scheitern mit Niveau

Sie ist nicht das Wunder-, aber auch nicht das Schmuddelkind, zu dem sie von Medien gemacht wurde. In ihrem zweiten Roman, „Jage zwei Tiger“, zelebriert Helene Hegemann sprachlich den Untergang der Menschheit durch Wohlstandsverwahrlosung. Mit Artistik, aber sehr schnoddrig.

In Redaktionen weiß man, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht für Medienpolitik interessiert. Sollte sie aber! Wem die Demokratie am Herzen liegt, der darf die Rolle, die Medien darin spielen, nicht ignorieren. Es wäre deshalb höchst an der Zeit, in den Schulen eine Stunde Medienpolitik – eventuell statt des Ethikunterrichts – einzuführen. Eine kritische Beschäftigung mit den Medien könnte den Zuzug der Nichtwähler und die Politikerverdrossenheit unter Jugendlichen eher reduzieren als sämtliche politische Sonntagsreden.

In einer Unterrichtsstunde im Fach Medienpolitik könnte man dann zum Beispiel den Fall Helene Hegemann behandeln: Da legt eine 17-Jährige einen Roman mit dem knalligen Titel „Axolotl Roadkill“ vor. Sie ist eloquent, ungeniert und Tochter aus bekanntem künstlerischen Hause, ästhetischer Adel gewissermaßen. Ihr Vater, der 1949 geborene Carl Hegemann, ist Dramaturg großer deutscher Theater und Festivals, zurzeit des berühmten Thalia-Theaters in Hamburg, drüben etwa so bekannt wie hüben Claus Peymann. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter – Helene Hegemann war damals 13 – zog sie zu ihrem Vater nach Berlin und begann zu bloggen und zu schreiben: mit 15 ein erstes Theaterstück, mit 16 einen ersten Film und mit 17 eben den Roman. Wenig überraschend, dass sich die Medien darauf stürzen, zumal „Axolotl Roadkill“, wie Ursula März in der „Zeit“ treffend formuliert hat, „sowohl hemmungslose, halluzinatorische Entladung eines traumatisierten Bewusstseins als auch dessen kalkulierte komische Parodie mit postmodernem Beigeschmack“ ist. Und dann folgt der Idealfall für Medien: Es gibt einen Skandal, denn das Buch stellt sich als zum Teil abgeschrieben heraus. Helene Hegemann hat sich kräftig des Berliner Bloggers Airen bedient, ohne das auszuweisen. Zu-Guttenberg-Assoziationen kochen hoch und bescheren dem Verlag einen Bestseller und den Medien einen Hype.

Nun ist vor Kurzem ihr zweiter Roman erschienen, „Jage zwei Tiger“. Zweite Romane haben es allgemein schwer, umso mehr, wenn das Debüt einen medialen Wirbel ausgelöst hat. Was hat sie diesmal angestellt?, fragt fiebrig das Feuilleton und beliefert sein Publikum möglichst umgehend mit schnellschüssigen Antworten, um nicht der Konkurrenz die Deutungshoheit zu überlassen. Und so reagierten sämtliche Medien prompt auf das Erscheinen des neuen Romans von Helene Hegemann.

„Der Jäger, der zwei Hasen jagt, verfehlt beide. Wenn du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll. Jage zwei Tiger.“ Genau dieses Motto verfolgt die nun 21-Jährige mit ihrem Roman. Sie ist klug und weiß, nach so einem Start, wie sie ihn hingelegt hat, kann sie nur scheitern. Aber wenn sie schon scheitern muss, dann mit Niveau. Das ist ihr gelungen. Das Buch ist die Talentprobe einer begabten jungen Autorin, die noch viel Lebens- und Leseerfahrung sammeln muss, um eine große Schriftstellerin zu werden.

Der Plot ist zu vergessen: Helene Hegemann schildert drei Jahre im Leben von ein paar Upperclass-Kids unter Beteiligung eines „Proletengirls“, die von einer Ansammlung von Schicksalsschlägen gekennzeichnet sind und am Ende im Stile von Robert Altmans „Short Cuts“ zusammengeführt werden – allerdings auf ziemlich konstruierte Weise. Die Biografien ihrer Figuren sind zum Teil so übertrieben tragisch, so surreal, dass man sie nur symbolisch für die Beschreibung einer „lost generation“ nehmen kann, aber nicht als die Beschreibung von wahren Schicksalen. Hegemann führt genau das vor, was sie Detlev, dem Vater ihres Protagonisten Kai, in den Mund legt: „So, jetzt weiß ich, was los ist, wir werden hier alle nur verarscht, und genau das werde ich den Menschen jetzt zeigen.“ Als philosophisches Programm ist das so dürftig wie der Eingangsspruch. Der ist im Grunde nämlich Esoterik: Warum soll ich zwei Tiger jagen, wenn ich schon nicht imstande bin, einen einzigen Hasen zu jagen? Trotzdem ist das Buch nicht schlecht.

Es lebt vor allem von seiner Sprache. Diese Sprache ist nicht die Heilung, sondern Ausdruck des Schmerzes. Der Fick-und-Scheiß-Jargon gibt präziser als der ideologische Überbau des Romans wieder, wie die Auslieferung der Nachkriegsgeneration an den Wohlstand in einem rotzigen Ennui der Enkelgeneration endet. Und „endet“ ist hier wörtlich gemeint, ist das Buch doch in einer Endzeitstimmung grundiert, die hier nicht dunkelgrau durchschimmert, sondern apokalyptisch schrill und grell funkelt. Über ihre Figur Cecile schreibt die auktoriale Erzählerin etwa, dass sie „die weitere Dimension des ,Eine Einladung ist unnötig‘-Bullshits sexy zu finden begann, also die kilometerlange Reihe aus nach 2006 gebauten Sportwagen und ihr Valentino-Kleid, dieses Aufeinandertreffen von proletarisch anmutender, humorloser Pseudodekadenz und einer aus Credibility-Gründen eingeladenen Culture-Scene, goldschwarze Spiegelfassungen, kombiniert mit beigem Marmor und derGeste wegen zu konsumierenden schlechten Drogen.“ Das ist einer der typischen Hegemann-Sätze.

Klar, dass man auch reihenweise so typische Jugendtweets wie „Voll der Scheiß“ oder „Ficken fetzt“ in dem Buch findet, aber die sind nicht die eigentliche Sprache Hegemanns, die viel elaborierter ist und mit gesprochener Sprache wenig gemeinsam hat. Das ist keine Sprache der Jugend, sondern eine Kunstsprache, die Hegemann sehr bewusst und gekonnt einsetzt. Spiegelt sie damit doch präzise jenen Kulturmix wider, von dem das 21.Jahrhundert geprägt ist. Ein Nachteil dieses schnoddrig-zynischen Stils ist, dass er den Leser rasch ermüdet und über einen ganzen Roman nicht trägt. Nicht erst nach dem (gezählten) 100. Mal Scheiße beziehungsweise Komposita damit stellt sich Langeweile ein.

Diese dürfte nun auch das große deutsche Feuilleton erfasst haben. War Helene Hegemann nach ihrem Debüt 2010 noch ein ins Negative gekehrtes Fräuleinwunder, das wohlige Schauer der Respektlosigkeit über die Silberrücken der Redakteure gejagt hat, so ist sie jetzt bloß noch die freche, lärmende Göre, die nervt. Das ist weder gerecht noch richtig. „Jage zwei Tiger“ ist ein negatives Märchen, fast eine Art Parabel auf den Untergang der Menschheit durch Wohlstandsverwahrlosung. Für Kai geht die Sache mit einem Happy End aus, er heiratet in Venedig Cecile und meint, „dass sich mehrere unbelohnte Jahre der Demütigung gelohnt zu haben scheinen“. Individuell scheint es für Helene Hegemann also durchaus Hoffnung zu geben, auch wenn sie der Menschheit als solcher wenig Chancen einräumt.

Und haben wir jetzt etwas fürs Leben gelernt? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2013)

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