Die Ruhe vor dem Tod

Nach ein paar Seiten fragt man sich, warum dieser Roman so einen Sog entwickelt, obwohl nur ein Durchschnittsleben beschrieben wird. Vielleicht, weil John Williams darin nach der Möglichkeit fragt, seinen Lebensentwurf frei zu gestalten. „Stoner“: heute aktueller als beim Erscheinen, 1965.

Ein Roman trägt immer auch seine Entstehungsgeschichte mit sich, als Bonus oder als Hypothek. Manchmal verhilft sie ihm zu einem unerwarteten Erfolg, mitunter ist der Zeitpunkt des Erscheinens beziehungsweise Thematik, Figurenkonstellation und die Distanz des Autors zum jeweiligen Zeitgeist bereits Grund genug für sein Scheitern. Die literarische Qualität fällt dabei viel weniger ins Gewicht. Aus dem Blickwinkel seiner Rezeptionsgeschichte ist dieser Roman daher besonders interessant.

„Stoner“ erschien 1965, in einer Zeit des Aufbruchs, des kulturellen und künstlerischen Paradigmenwechsels. Es war die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, der Rassenunruhen, des Vietnamkriegs und der Counter Culture. Die Beatles, Bob Dylan und Joan Baez hatten ihre großen Auftritte, James Baldwin, J.D. Salinger, William Burroughs waren die Romanciers der Stunde. Im Rückblick verwundert es nicht, dass ein Buch wie „Stoner“ bei seinem Erscheinen wenig Echo fand.

John Williams, 1922 in Missouri geboren, war nach anfänglichen Versuchen im Journalismus und der Teilnahme im Zweiten Weltkrieg, Professor an einem kleinen College, an dem er bereits studiert hatte. Er blieb dort Lehrbeauftragter bis zu seiner Pensionierung. Er war also ein Vertreter des Establishments, in der Wahrnehmung der führenden Kulturszene einer aus der Vätergeneration, noch dazu aus der tiefsten Provinz des Bible-belts, dessen Kritik zu leise, zu differenziert und zu sehr mit existenziellen Fragen befrachtet war, um gehört zu werden. Zwischen 1948 und seinem Tod 1994 publizierte er zwei Gedichtbände und vier Romane mit mäßigem Erfolg. Seine Biografie ist nicht die seines Protagonisten William Stoner, aber sie spiegelt sich in der Atmosphäre, die diese Figur umgibt und prägt.

Mit seiner Hauptfigur geht John Williams noch weiter zurück: „William Stoner begann 1910, im Alter von 19 Jahren, an der Universität von Missouri zu studieren. Acht Jahre später, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, machte er seinen Doktor in Philosophie und übernahm einen Lehrauftrag an jenem Institut, an dem er bis zu seinem Tod im Jahr 1956 unterrichten sollte.“ So trocken und unspektakulär beginnt der Roman. In diesem kühlen, fast beiläufigen Ton eines gerafften Lebensberichts geht es auch weiter, die Kindheit auf einer Farm in Missouri, die nicht das Nötigste zum Leben abwirft, das anfängliche Landwirtschaftsstudium, währenddessen er auf der Farm von Verwandten für Kost und Logis schwer arbeiten muss, der Studienwechsel zur Geisteswissenschaft, Universität, eine Freundschaft, die, wenn auch mit Enttäuschungen, ein ganzes Leben lang halten wird, Freistellung vom Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg, Heirat, scheinbar ein Leben ohne Höhen und Tiefen, wie es Millionen von Amerikanern immer noch führen.

Irgendwann fragt man sich als Leser, warum dieser Roman so spannend ist, obwohl es sich um kein außergewöhnliches, mit unerwarteten Wechselfällen angereichertes Schicksal handelt, sondern um ein Durchschnittsleben, das jedoch im Lauf der 350 Seiten die Tiefe einer Tragödie gewinnt und die grundsätzlichen Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach der Möglichkeit, seinen Lebensentwurf frei zu gestalten, aufwirft. So sehr der Autor am Anfang die Ereignisse rafft, so viel Zeit nimmt er sich für die Entwicklung seiner Figuren.

Asyl für die Enteigneten der Welt

William Stoner behält selbst als Intellektueller die geradlinige Unbeugsamkeit des Farmers, der er eigentlich hätte werden sollen, Bescheidenheit und Realitätssinn. Die Kargheit der Lebensumstände ist von Anfang an für ihn eine Tatsache, in die er sich fügt, ob es um den Beruf geht oder um die Frau, die er heiratet. Auch wenn es eine Heirat aus einer vagen Anziehung heraus ist, die er in seiner Unerfahrenheit für Liebe hält, erwartet er nicht das große Glück. Er fügt sich in die Gegebenheiten. Das College und den Literaturunterricht, dem er sein ganzes Leben weiht, empfindet er als seine Berufung, aber er weiß auch, dass es ein „Asyl für die Enteigneten der Welt“ ist, die vor der rauen Wirklichkeit draußen zurückschrecken.

Stoner hat keinen Einfluss darauf, dass seine Frau zuerst mit Kränklichkeit, dann mit boshafter Herrschsucht auf ihr unausgefülltes Hausfrauendasein reagiert, und er hat auch keinen Einfluss darauf, dass ein neuer Vorgesetzter aus einem Grund, den er bis zum Schluss nicht versteht, ihm das Leben unerträglich macht. Es ist sein Alltag, 30 Jahre lang. Als seine Frau alles tut, um ihm die Tochter zu entfremden, lässt er es ebenso geschehen wie Degradierung und Demütigungen im Beruf. Und trotzdem ist er nicht bloß eine Hiob-Figur, oder einer, der sich nicht zu wehren versteht. Seine Passivität enthält einen Überlebenswillen, der nicht zu brechen ist, jedenfalls nicht so leicht. Auch durch sein Leben ziehen sich Leidenschaften wie ein unterirdischer Strom, der manchmal an die Oberfläche tritt und ihn mitreißt.

Als Student entdeckt er die Literatur, es ist eine Epiphanie, an der er sein ganzes Leben lang festhält, „etwas durch Worte zu erkennen, was sich in Worten nicht fassen lässt“. Er ist bereits über 40, als er von der Liebe überwältigt wird. Von außen gesehen ist es eine banale Liebesaffäre mit einer Dissertantin, aber sie erfasst ihn mit einer leidenschaftlichen Intensität, von der er bisher nichts ahnte. Zum ersten Mal spürt er, dass er lebt. Er verteidigt seine Liebe vor seiner Frau, aber vor den Intrigen am College kann er sie nicht beschützen. Und so verliert er sie. Nur einmal noch, Jahrzehnte später, liest er ein Buch von ihr, das sie der Erinnerung an die kurze Zeit ihrer Liebe gewidmet hat.

Dieses Ende empfindet er als seine endgültige Vernichtung. Aber das Weiterleben nach dem Untergang hat eine Leichtigkeit, bei der nichts mehr wirklich zählt. Die Tochter wird schwanger, heiratet jung und ist Kriegswitwe, bevor das Kind zur Welt kommt. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sie ihr Geburtsjahr mit dem ihres Autors teilt und wie er im Lauf ihres Lebens zur Alkoholikerin wird. Sie war einmal ein liebenswertes Kind, sinniert ihr Vater am Ende. Schließlich bekommt er Krebs. Auch das nimmt er gelassen, fast ironisch hin. Er quittiert den Job, darauf hat sein Feind seit Jahren unverdrossen hingearbeitet. Es gibt keine Kompensation, kein glückliches Ende außer der Ruhe, mit der er den Tod geschehen lässt. Trotzdem erschüttert diese Lebensgeschichte in ihrer klaren und lakonischen Sprache, vielleicht weil der Weg, den der Protagonist so folgerichtig und ohne echte Alternativen gehen muss, den meisten Durchschnittsleben ähnelt. Ein paar frei gewählte Schritte und schon folgt alles Weitere wie vorbestimmt.

Es ist das Leben eines vom Schicksal Besiegten, der nicht aufbegehrt, sondern in seinem Rahmen zu leben versucht. Ein paar Glücksmomente, nicht mehr. Kein Buch für die Aufbruchsstimmung der 1960er, eher eines für die aktuelle Endzeitstimmung. ■

John Williams

Stoner

Roman. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. 352 S., geb., €20,60 (Deutscher Taschenbuch Verlag,
München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2013)

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