Alles Barbaren außer uns

Für den Historiker Ulrich Sieg spielte der Patriotismus unter den akademischen Philosophen Deutschlands zur Rechtfertigung des Ersten Weltkriegs eine zentrale Rolle. Sind „Geist und Gewalt“ tatsächlich nur im wilhelminischen Kaiserreich eine unheilige Allianz eingegangen?

Es scheint durchaus verdienstvoll, nach den unzähligen Aufarbeitungen der Rolle deutscher Intellektueller in der Nazi-Zeit, die Periode des wilhelminischen Kaiserreichs und die Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg unter die Lupe zu nehmen. Dabei kommen etliche interessante Geschichten und Episoden, vor allem was die akademischen Philosophen betrifft, zutage.

Aber – um es vorwegzunehmen – bei Ulrich Sieg geht das alles in einer gewiss kenntnisreichen Aufarbeitung von Details unter, weshalb die Auseinandersetzung des Verfassers mit der These des Sonderwegs deutscher Geschichte irgendwie verworren bleibt. Dieser unter Historikern sehr kontrovers diskutierte Sonderweg, vor allem in Abhebung zu den „westlichen Werten“, wird von Sieg zwar aus dem Einfluss des Hegelianismus für die Geschichtsschreibung erklärt, soll aber nach Ansicht des Verfassers einer Auffassung von Geschichte weichen, die dem Offenen und Ungewissen der Entwicklungen Raum gibt.

Es geht, wie Sieg schreibt, um Episoden, Ereignisse und Konstellationen, beginnend mit den Attentaten auf den deutschen Kaiser, der Reaktion des Bismarck'schen Systems gegen dem Liberalismus und um die Haltung der Philosophen, die in erster Linie dem Neukantianismus verpflichtet waren. Während die Marburger Schule mit Hermann Cohen, Paul Natorp, Karl Vorländer und auch Ernst Cassirer erkenntnistheoretisch und wissenschaftsorientiert ausgerichtet war, stellte die Südwestdeutsche Schule mit Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert wertphilosophische Fragen ins Zentrum. Beide Schulen fußten auf einer Bildungsidee, die das Bürgertum dieser Epoche kennzeichnete und die bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs mitverantwortlich für den bei den akademischen Philosophen grassierenden Patriotismus und Nationalismus gemacht werden konnte.

Einen Sonderfall stellt der zu Nobelpreisehren gekommene Rudolf Eucken dar, dessen Lebenslauf nach Meinung des Verfassers die Dynamik des 19. Jahrhunderts besonders deutlich widerspiegelt. Zunächst Kollege Nietzsches in Basel, dann nach Jena berufen, entfaltete Eucken in der zur „Weltanschauung“ mutierenden Wertphilosophie beträchtliche Wirkung, legte sich mit seinem Kollegen Haeckel, dem Verfasser der „Welträtsel“ und Gründer des Monistenbundes, an und schlug sich schließlich auf die Seite Fichtes und des deutschen Idealismus. Seine populär gestalteten Feuilletons lassen ihn als Vorläufer Sloterdijks und Prechts und ihrer österreichischen Nachahmer erscheinen, zumal er sich geschickten Marketings bediente. Sein Kampf gegen den Materialismus, dessen Bedeutung durch die Erfolge der Naturwissenschaft immer größer wurde, ist unter den Devisen der Sinnsuche und Wiederentdeckung der deutschen Tradition der Innerlichkeit geführt worden und bereitete den Boden für den begeisterten Patriotismus beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Die These des Autors, „in einem heute kaum noch vorstellbaren Ausmaß spielten Philosophen bei der Rechtfertigung des Ersten Weltkriegs eine zentrale Rolle“, scheint weit übertrieben und nicht auf Deutschland beschränkt. Hier fehlen die Vergleiche zu England und Frankreich, wobei sich Philosophen wie Henri Bergson nicht eben mit Ruhm bekleckerten, wenn sie die Deutschen als Barbaren bezeichneten oder wenn in Großbritannien das Schlagwort von den Hunnen zirkulierte. Sicher, der „Aufruf an die Kulturwelt“, der die Unschuld der eigenen Nation herausstellte, der Hassgesang Ernst Lissauers gegen England, zählte zu den betrüblichen Zeichen eines blinden Nationalismus, ebenso wie Euckens Überzeugung einer kulturellen Mission Deutschlands und seine Kriegsbegeisterung. Dieser Optimismus wurde aber durch Philosophen wie Max Scheler oder Paul Natorp gründlich konterkariert.

Auch Bruno Bauch und selbst Heinrich von Treitschke hatten mit ihrem Antisemitismus die These vom inneren Feind vorbereitet, die dann nach dem Krieg unheilvolle Wirkungen zeitigen sollte. Die Rolle von Nietzsches Schwester und dem Weimarer Nietzsche-Archiv dient dem Verfasser ebenso als Beleg für eine übersteigerte Deutschtümelei, für die es – abgesehen vom Missbrauch Nietzsches durch die Nationalsozialisten – kaum ein Beispiel gibt.

Auffangbecken für radikale Nationalisten war die Deutsche Philosophische Gesellschaft, gegründet 1917, die in der Weimarer Republik eine nicht unwichtige Rolle spielen sollte. Die Stimmungslage nach dem Krieg führte zu einer Fichte-Renaissance, einem Streit über Gemeinschaft und Gesellschaft sowie einem weiteren Missbrauch der Nietzsche'schen Philosophie. Auch die Bewegung der „Konservativen Revolution“, die aus Protest gegen Sozialismus und die Weimarer Republik entstanden war, schätzte die immer stärker werdenden Begriffe wie Volk und Nation. Gegenstimmen wie die von Helmuth Plessner, der mit seinem Buch „Die verspätete Nation“ nicht unerheblich zu einer kritischen Betrachtung des deutschen Eigenwegs beigetragen hatte, waren selten.

Nach Hitlers Machtergreifung verschwand die Bedeutung der deutschen akademischen Philosophen, obwohl ein Drittel von ihnen der NSDAP beitrat. Abgesehen vom kurzlebigen Rektorat von Martin Heidegger in Freiburg blieb der Einfluss der Philosophen auf die NS-Politik marginal. Sieg konstatiert: Nicht viele Philosophen scheinen ohne Wenn und Aber am nationalsozialistischen Weltbild festgehalten zu haben.

Ein gelassener Umgang mit historischen Meistererzählungen, so der Verfasser, scheint angebracht. Eine überzeugende Theorie aber fehlt bei ihm, gerade heute, wenn nationalistische Bewegungen wiederaufflammen. ■

Ulrich Sieg

Geist und Gewalt

Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. 316S., geb., €28,70 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.12.2013)

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