Wie ein Dieb versteckt im Souterrain

„Die Verfolgung“: Mit Erstarrung reagiert ein Kinderarzt, als man ihm Vergewaltigung vorwirft. Alessandro Pipernos Abrechnung mit dem vulgären Italien.

Es war der 13.Juli 1986, als der peinliche Wunsch, nie auf die Welt gekommen zu sein, von Leo Pontecorvo Besitz ergriff.“ Gerade als die Familie beim Abendessen versammelt ist,„suggeriert“ jemand im Fernsehen, dass Leo, der erfolgreiche Arzt in mittleren Jahren, die Freundin seines Sohnes gevögelt habe, eine Göre von zwölf Jahren.

Alessandro Piperno, der vor acht Jahren mit seinem frechen Debütroman „Mit bösen Absichten“ viel Aufsehen und einen kleineren Skandal in der literarischen Szene Italiens entfacht hat, setzt in seinem zweiten Roman auf Vladimir Nabokov, Franz Kafka und Marcel Proust, um Leos tiefen Fall zu erzählen. Er setzt dabei auf einen allwissenden, ironisch-oberklugen Erzähler, der die Leser mit Direktansprachen immer wieder aus allzu sentimentaler Hingabe an Leos bitteres Schicksal herausreißt.

Die scheinbar absurde Anklage macht aus dem tatsächlich unschuldigen Leo, dem erfolgreichen Kinderarzt und Kolumnisten für den „Corriere della Sera“ (Titel: „Vorbeugen ist besser als heilen“), nämlich keinen Kämpfer: Wie in seiner Kindheit reagiert er beleidigt, verfällt er in die Rolle eines hingebungsvollen Opfers in Schockstarre. „Sie würden kurzen Prozess mit ihm machen.“ Leo flieht wie ein ertappter Dieb ins Souterrain des eigenen Hauses und befreit so seine Lieben von der Last seiner Präsenz, „wie der behutsame und schüchterne Gregor Samsa“. Ohne Kommentar überlässt ihn seine Familie seinem Schicksal und vergisst ihn. Wie in Kafkas „Prozess“ ist die Anklage (zumindest vorerst) unklar, bald gibt es Hausdurchsuchungen und Verhöre.

Auf der Suche nach den vorangegangenen Signalen einer künftigen Katastrophe lässt Leo nun sein ganzes Leben Revue passieren. Er stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, die den Holocaust in der Schweiz überlebt hat. Die Heirat mit der nicht unbedingt standesgemäßen Rachel wird toleriert, er übernimmt dafür folgsam die Kinderarztpraxis seines Vaters, bekommt einen Lehrstuhl und leitet mit seinen 48 Jahren eine Klinik für krebskranke Kinder – und bleibt bei allem Erfolg doch das nicht abgenabelte „missratene Muttersöhnchen“.

Und er erinnert sich an die Geschichte mit der zwölfjährigen, frühreifen Camilla, die sein Sohn zu Weihnachten in den Familienurlaub mitbringt. Sie schreibt dem Professor Briefchen, und er beantwortet sie in geschmeichelter Eitelkeit. Zu irgendwelchen körperlichen Kontakten kommt es nicht. Zurück in Rom wird er von ihr eiskalt wegen „versuchter Vergewaltigung“ verklagt.

Leos Fall wird von Piperno vor dem Hintergrund der 1980er-Jahre in der vulgären Gesellschaft Italiens und seiner skrupellosen Medien verhandelt: Der Sozialist Bettino Craxi regiert und korrumpiert ein Land, in dem nach dem Gewinn des Fußballweltmeistertitels alle glauben, selbst Sieger sein zu müssen. Eine gierige Gesellschaft vor dem tiefen Fall, der ein paar Jahre später das politische System Nachkriegsitaliens hinwegfegen wird. Ein weiteres Ziel von Alessandro Pipernos gepfeffert ironischen Attacken ist das jüdische Großbürgertum Roms, dem er schon in seinem Debüt einiges zu sagen hat.

So unplausibel Leos Verhalten nach psychologischen Kriterien auch sein mag, es tut dem literarischen Elan keinen Abbruch, mit dem Piperno hier arbeitet. „Leo hat ein bisschen zu lange gebraucht, um zu sterben. Aber nun, da er es endlich geschafft hat, ist es eure Sache, aufzuräumen und die Rechnungen zu begleichen.“ Die angekündigte Fortsetzung rund um die zwei Söhne Leos, „Inseparabili“, ist mittlerweile in Italien erschienen und hat den renommierten „Premio Strega“ 2012 gewonnen. Wir sind gespannt. ■

Alessandro Piperno

Die Verfolgung

Im Feuer der Erinnerungen. Roman. Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann. 448S., geb., €23,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2014)

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